Politologe zum Merz-Plan "Der Schockmoment könnte ein Erweckungserlebnis sein"
01.02.2025, 11:08 Uhr Artikel anhören
Friedrich Merz konnte sein Zustrombegrenzungsgesetz nicht durch den Bundestag bringen. Der strategischre Fehler der Union war: Sie hat den Eindruck vermittelt, sie könne das Migrationsproblem jetzt lösen. Das kann sie aber vor der Wahl nicht.
(Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)
Paradoxerweise könnten die Ereignisse im Bundestag am vergangenen Mittwoch und Freitag zum Erweckungserlebnis werden, sagt der Politologe Timo Lochocki. Der Schockmoment könnte dazu führen, dass die großen Parteien nach der Wahl über ihren Schatten springen und überfällige Reformprojekte anstoßen.
"Wenn die Parteien der Mitte sich nicht auf Migrationskompromisse einigen, führt das dazu, dass rechtspopulistische Akteure Richtung 40 Prozent gehen", sagt er. Und warnt: "Eine Regierungsteilnahme der AfD, gar jegliche auch nur noch so kleine Kooperation mit ihr, steht dem nationalen Interesse Deutschlands diametral entgegen."
ntv.de: Ein Entschließungsantrag der Union hat am Mittwoch im Bundestag nur mithilfe der AfD-Fraktion eine Mehrheit bekommen. Am Freitag wollten CDU und CSU dann einen Gesetzentwurf mit den Stimmen von FDP, AfD und BSW durch den Bundestag bringen, was allerdings gescheitert ist. Rein auf der taktischen Ebene: Hilft der Union dieses Vorgehen?
Timo Lochocki: Nein, ganz im Gegenteil. Durch die Bereitschaft, einen Antrag und sogar einen Gesetzentwurf mithilfe der AfD zu verabschieden, hat sie die Situation geschaffen, die Wahl noch verlieren zu können. Denn eigentlich war die Union in der glücklichen Position, als sicherer Wahlsieger zu gelten. Mit ihrem Vorgehen hat sie gewisse konservative Wähler vielleicht angesprochen. Aber insgesamt wird sie wahrscheinlich zwei, drei Prozentpunkte an die AfD verlieren, vielleicht mehr. Denn diese Wähler sagen nicht: Die Union hat geliefert. Sondern sie sagen: Nur durch den Druck der AfD hat Merz seinen Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt. Und dann hat es nicht einmal geklappt. Damit hat die Union genau den jahrelangen Vorwurf der AfD bestätigt: "Die kündigen nur an, liefern aber nicht." Aber das ist für die Union gar nicht das Hauptproblem.

Timo Lochocki ist Politologe, er hat als Wissenschaftler und Politikberater gearbeitet. Während der Covid-19 Pandemie hat er das Referat Strategische Planung im Bundesgesundheitsministerium geleitet. Aktuell ist er Visiting Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR).
(Foto: privat)
Was ist das Hauptproblem?
Die Union hat ein Mobilisierungsthema für SPD und Grüne geschaffen, das es vorher nicht gab. Die große Frage ist, wie die Wähler damit umgehen. Gehen Wechselwähler von der CDU zur SPD oder zu den Grünen? Vorstellbar ist das. Darüber hinaus gibt es nun die theoretische Chance, dass sich alle linken Parteien - also SPD, Grüne, Linkspartei und BSW - nach der Wahl zu einer Koalition zusammenreißen, um Friedrich Merz als Kanzler zu verhindern. Um die großen inhaltlichen Differenzen der linken Parteien zu überbrücken, brauchte es ein klares Feindbild, und das hat Friedrich Merz ihnen geliefert. Die Mobilisierungschancen und die Koalitionschancen des linken Lagers sind aktuell nicht klar abschätzbar, aber sie sind nun da. Vor zwei Wochen lag die Union politisch 4:0 vorne; nun hat das linke Lager fünf Elfmeter. Die muss sie erstmal alle machen, aber vorher hatten sie eigentlich keine Chance, die Wahl noch zu gewinnen. Jetzt schon.
Aus der Union war vor der Abstimmung vom Freitag zu hören, dass es jetzt um 28 oder 40 Prozent gehe.
Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Selbst wenn die Abstimmung am Freitag anders ausgegangen wäre, hätte ich mir keine Dynamik vorstellen können, in der sich Wähler in Scharen von der AfD zur Union bewegen. Dafür hat die Union, trotz der migrationspolitischen Wende, die Friedrich Merz vollzogen hat, noch immer zu wenig Glaubwürdigkeit bei der Migrationsfrage. In den Augen vieler Wähler wird sie bei diesem Thema weiterhin mit der Politik von Angela Merkel verbunden. Entsprechende Vorstöße der Union in den vergangenen zwei Jahren haben immer dazu geführt, dass die AfD noch stärker wurde. Warum sollte es im Frühjahr 2025 anders sein? Und Mitte-Wähler wird die Union so auch nur wenige ansprechen, dafür war das Vorgehen für viele zu ruppig und trifft auch nicht den Kern ihrer zentralen Anliegen - nämlich Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Trägt nicht die Ampel die Hauptverantwortung für den Erfolg der AfD in den Umfragen - wegen des Heizungsgesetzes und dem fast permanenten Streit innerhalb der Koalition? Und hat die Union nicht einen Punkt, wenn sie SPD und Grünen vorwirft, sie hätten sich Kompromissen in der Migrationspolitik verweigert?
Man muss ganz klar sagen: Der Aufstieg der AfD ist die Schuld aller demokratischen Parteien. Die Verantwortung der Union und auch der FDP liegt darin, Vorstöße in der Migrationspolitik unternommen zu haben, die allesamt abgebrochen werden mussten.
Das ist ja nicht die Schuld der Union.
Aber bei konservativen Wählern wurde so der Eindruck erweckt oder verstärkt, dass es ein gravierendes Problem mit der Migration gibt. Und das gibt es offensichtlich auch. Aber die Union hat den Eindruck vermittelt, sie könne es jetzt lösen. Das kann sie aber vor der Wahl nicht. Sie braucht erst eine unionsgeführte Bundesregierung, um ihre Vorschläge umsetzen zu können; und darauf hätte sie warten sollen.
Aber Sie haben recht, zur Wahrheit gehört, dass sich die Ampel so gut wie nie auf die Union zubewegt hat. Gerade im Bundesrat haben sich die SPD-geführten Länder mehrfach Vorstößen der Union verweigert. Das linke Lager der SPD, die Grünen und die CDU/CSU und die FDP tragen also die gleiche Verantwortung für den Aufschwung der AfD.
In anderen westlichen Ländern scheint der Siegeszug der Rechtspopulisten unaufhaltsam - in den USA, in Frankreich, Italien, Österreich. Kann Deutschland sich diesem internationalen Trend entziehen?
Unvermeidbar ist dieser Trend nicht. Wie es weitergeht, hängt davon ab, was die Union nach der Wahl macht, wenn sie den Bundeskanzler stellen kann. Sollte sie weiterhin die Kooperation mit der AfD suchen - was ich nicht glaube -, dann wird sie über kurz oder lang hinter die AfD zurückfallen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Warum?
Es gibt kein Land, in dem eine Mitte-Rechts-Partei auf längere Sicht mit dieser Strategie Erfolg hatte. Das sehen wir jetzt in Österreich, wir haben es in Frankreich gesehen und in den USA. Wenn die Parteien der Mitte sich nicht auf Migrationskompromisse einigen, führt das dazu, dass rechtspopulistische Akteure Richtung 40 Prozent gehen. Auf diesem Kurs wäre Deutschland dann auch. Was man aber jetzt natürlich sagen muss: Die aktuelle Situation, der Aufschrei der Leitmedien und das Scheitern am Freitag im Bundestag, trägt auch eine große Chance in sich.
Inwiefern?
Wenn die Union nach der Wahl sagt: Das Vorgehen im Bundestag war ein taktisches Missverständnis in der Hitze des Bundestagswahlkampfs, das war keine strategische Grundlagenentscheidung, dann kann sie diesen Trend brechen. Deswegen ist die alles entscheidende Frage, wie die Union sich nach der Wahl verhält. Das Wahlergebnis wird ihr zeigen, welche Richtung die Bürger goutieren.
Was passiert, wenn nach der Wahl eine Koalition aus Union und SPD gebildet wird? Schwarz-Rot stand zuletzt ja eher für Stillstand.
Es gibt die kurzfristigen und die langfristigen Projekte. Kurzfristig sind Absprachen in der Migrationspolitik und der inneren Sicherheit der zentrale Schlüssel, um die liberale Demokratie in Deutschland zu stabilisieren. Die nächste Bundesregierung, idealerweise mit einem Innenminister der Union, muss alle Energie darauf verwenden, in der Migrationspolitik konservative Akzente zu setzen, die dann auch vier Jahre lang geräuschlos umgesetzt werden. Hier muss dann möglichst viel von dem umgesetzt werden, was die Koalition ankündigt. Das "ankündigen und nicht liefern" muss aufhören. Für Jahre. Das ist die sine qua non - die Bedingung, ohne die es nicht gehen wird.
Wird sich die SPD denn, nach allem, was in dieser Woche im Bundestag passiert ist, auf eine Koalition mit der Union einlassen?
Damit es dazu kommt, braucht es vielleicht die schriftliche Fixierung eines Unvereinbarkeitsbeschlusses zur AfD. Ein Koalitionspartner könnte das zur Bedingung machen, um sicherzugehen, nicht erpressbar zu sein. SPD und Grüne argumentieren ja jetzt schon, sie könnten nicht ausschließen, dass die Union nach der Wahl das Gleiche macht wie in dieser Woche.
Das waren die kurzfristigen Projekte. Was muss die nächste Regierung langfristig angehen?
Sie muss die Ursprungsproblematik angehen. Warum wird die AfD immer größer? Neben der Migration liegt es am Diskursraum, in dem wir uns befinden. Es braucht eine grundlegende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, es braucht, und das ist wahrscheinlich die größte Baustelle, eine alternative europäische digitale Netzwerkstruktur, die digitale Kommunikation unabhängig von US-Digitalriesen ermöglicht. Das ist eine epische Herausforderung für die europäischen Gesellschaften. Aber wir merken ja, wie die US-Digitalunternehmen sich an die Trump-Regierung anwanzen. Ein zentraler Bereich unseres Diskussions- und Debattenraums wird geprägt von rechtspopulistischen Akteuren. Dazu braucht es eine Alternative, die im Sinne der liberalen Demokratie aufgestellt ist.
Der zweite Punkt, der Wähler zur AfD und zum BSW treibt, ist die soziale Frage. Untere und mittlere Einkommensschichten haben extrem unter der Inflation gelitten, sie brauchen eine spürbare Entlastung - mehr Netto vom Brutto. Man könnte beispielsweise den Steuerfreibetrag auf 20.000 Euro hochsetzen. Das wäre eine Entlastung von 1500 Euro für jeden Bundesbürger. Das allerdings wäre ohne eine grundlegende Reform der Schuldenbremse nicht zu machen.
Ich ahne, dass Sie einen dritten Punkt haben.
Das sind die strukturellen Probleme, die unser politisches System polarisieren. Die Frage lautet: Gibt es nicht zu viele Sprungbretter in einen polarisierten Diskurs? Man müsste sich überlegen, wie die Wahltermine angelegt sind und ob die Legislaturperioden vielleicht zu kurz sind. Kann man Projekte starten, um das Land zusammenzuführen? Das können Gesellschaftsjahre sein, die Leute gewissermaßen dazu zwingen, in direkte Interaktion zu treten. Wie kann man den Patriotismus stärken? Wie kann man Gemeinschaftsmomente schaffen? Die AfD wird ja gerade dadurch groß, dass sie eine emotionale Geschichte anbietet.
Sie haben ein Buch geschrieben, das diese Reformideen ausdekliniert. Bei Ihrer Buchvorstellung machte ein niederländischer Journalist die Bemerkung, Deutschland sei nicht gerade als reformfreudig bekannt, und alle haben geschmunzelt.
Der Schlüssel ist, dass wir in Deutschland auf zwei großen Vorteilen sitzen. Auch nach der Bundestagswahl wird die demokratische Mitte über eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern verfügen. Grundlegende Reformen sind also jederzeit umsetzbar. Und wir sitzen auf einem riesigen Goldschatz: Wir haben die niedrigste Verschuldung aller relevanten Volkswirtschaften. Wir könnten ohne Probleme in den nächsten zehn Jahren pro Jahr 100 Milliarden Euro zusätzlich für Innovationsförderung, Demokratiestabilisierung und Verteidigungsfähigkeit ausgeben. Unsere Rahmenbedingungen sind die mit Abstand besten aller entwickelten Demokratien. Was fehlt, ist der politische Wille, diese Reformpotenziale umzusetzen. Aber paradoxerweise könnte jetzt dieser Schockmoment dazu führen, dass die großen Parteien nach der Wahl über ihre Schatten springen und diese Reformprojekte anleiern. Die Bilder von jubelnden AfD-Politikern im Bundestag, der Aufschrei der Leitmedien, all das könnte ein großes Erweckungserlebnis sein, das die demokratische Mitte wieder zusammenführt und mutige Reformen anstößt.
Was ist eigentlich gefährlich daran, wenn Parteien wie die AfD oder die FPÖ mitregieren?
Damit kämen drei Probleme auf uns zu. Das erste: Die AfD würde versuchen, die Institutionen so umzubauen, dass demokratische Grundrechte nicht mehr gewahrt werden und der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Die Anfänge davon sehen wir gerade in den USA. Das zweite ist, dass diese Parteien dafür sorgen, dass die Politik sich nur noch über migrations- und identitätspolitische Thematiken streitet. Die zentralen Reformprobleme würden nicht mehr behandelt. Faktisch führt eine Regierungsteilnahme von rechtspopulistischen Akteuren zu einer Reformstarre auf den zentralen, relevanten Problemen. Unsere Wirtschaft würde stagnieren, wir würden alle bald deutlich ärmer. Und drittens verfolgen diese Parteien genau den außenpolitischen Kurs, den die autoritären Regime in Russland und China wollen.
Weil sie auf einen Kuschelkurs zu Moskau und Peking gehen würden?
Sie wollen aus der EU austreten, Moskau und Peking in der Ukraine und Taiwan freie Hand lassen, sie würden Desinformationskampagnen nicht mehr bekämpfen. Man sieht das in Ungarn und Österreich. Eine Regierungsteilnahme der AfD, gar jegliche auch nur noch so kleine Kooperation mit ihr, steht dem nationalen Interesse Deutschlands damit diametral entgegen. Das wäre das Schlimmste, was der liberalen Demokratie in Deutschland passieren könnte. Für Peking und Moskau wäre es dagegen das Allerbeste. Es gibt kein besseres Szenario für autoritäre Regime als das, in dem wir uns gerade befinden. Plakativ formuliert: Deutsche Verteidigungspolitik beginnt im Ausschuss für Inneres und Migration.
Mit Timo Lochocki sprach Hubertus Volmer.
Quelle: ntv.de