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Reisners Blick auf die Front "Das ist das Elend eines Abnutzungskrieges"

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Ukrainische Soldaten feuern bei Bachmut auf russische Stellungen.

Ukrainische Soldaten feuern bei Bachmut auf russische Stellungen.

(Foto: AP)

Geschichte wiederholt sich nicht, "aber mitunter folgt sie denselben Mustern", sagt Oberst Markus Reisner mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. "Wir befinden uns in diesem Krieg gewissermaßen im Jahr 1915 auf dem Weg zu 1916", so Reisner in seinem wöchentlichen Blick auf die Front. "Beispielsweise sehen wir auf beiden Seiten eine Stoßtrupp-Taktik, die schon damals im Ersten Weltkrieg angewandt wurde." Die Ukraine habe weiterhin große Probleme mit dem Kampf der verbundenen Waffen. Vor allem aber fehle ihr eine funktionierende Luftwaffe sowie Boden-Boden-Raketen, um "in der Tiefe des Raumes wirksam zu werden - gegen russische Kampfhubschrauber und -flugzeuge, gegen Reserven, gegen die Logistik und auch gegen die Führungsstrukturen der Russen".

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: privat)

ntv.de: Gab es in den letzten Tagen relevante Verschiebungen der Front?

Markus Reisner: Wir haben heute Tag 516 seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, Tag 51 seit Beginn der ukrainischen Offensive. In den letzten Tagen gab es tatsächlich interessante Entwicklungen, die für normale Beobachter vielleicht nicht so offensichtlich waren.

Welche waren das?

Beginnen wir mit der ukrainischen Seite. Die Ukrainer haben erneut versucht, interessanterweise am 50. Tag seit Beginn der Offensive, im Zentralraum bei Robotyne anzugreifen. In den sozialen Medien gibt es sehr detailliertes Material von ihrem Versuch, mit der 47. mechanisierten Brigade vorzustoßen. Das ist jene Brigade, die mit Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 und M2 Bradley ausgestattet ist. Dieser Vorstoß ist unter Verlusten abgeschlagen worden. Von russischer Seite kam dabei eine Kombination aus Artillerie und Minenfeldern zum Einsatz, vor allem aber von Kamikazedrohnen des Typs Lancet. Für die Ukrainer hat sich der Einsatz dieses Drohnentyps und von sogenannten "First Person View"-Drohnen zu einem ausgewachsenen Problem entwickelt.

"First Person View"-Drohnen?

Das sind einfache Drohnen, die man eigentlich von zivilen oder sogar privaten Anwendungen kennt. Damit werden zum Beispiel Rennen geflogen. Derartige Drohnen werden mit einer hohlladungsbildenden Sprengladung, zum Beispiel dem Geschosskopf einer RPG-7-Panzerabwehrrakte, ausgestattet und mittels Kamera ins Ziel gesteuert. Der Bediener trägt eine Brille, in welche er das Bild der Drohnenkamera live eingespielt bekommt. So kann er die Drohne mit hoher Geschwindigkeit ins Ziel steuern. Dies ermöglicht es sogar gezielt die Schwachstellen eines Panzers, also etwa das Heck, anzugreifen. FPV-Drohnen sind somit billige und leistungsfähige Hochpräzisionswaffen.

Gab es weitere ukrainische Vorstöße?

Ja, man versucht mit Stoßtrupps östlich und westlich von Robotyne anzugreifen: bei Pjatychatky nördlich von Melitopol, bei Welyka Nowosilka, das nördlich von Mariupol liegt, sowie vor allem in Bachmut. Von all diesen Angriffen sind jene bei Bachmut am erfolgreichsten.

Inwiefern?

In Bachmut haben die Russen das Problem, dass sie sich nicht so umfangreich eingraben konnten. Das macht es den Ukrainern etwas leichter, dort vorzustoßen. Die Ukraine kann also einen sehr starken Druck nördlich und südlich von Bachmut ausüben.

Und die Russen?

Die Russen haben es im Raum Swatowe nördlich von Kremina und Sjewjerodonezk offenbar geschafft, nach Westen vorzustoßen. Es gibt dazu unterschiedliche Berichte, aber man nimmt an, dass es zwischen fünf und sogar sieben Kilometer waren. Darum ist zu erwarten, dass sich die Angriffe hier noch weiter steigern werden. Dies ist genau der Raum, in dem sich die 1. Gardepanzerarmee der Russen in den letzten Monaten in Bereitstellung und Auffrischung befand. Das ist ein Eliteverband, der zu Beginn des Krieges schwere Verluste erlitten hat und in den letzten Monaten kaum in Erscheinung getreten ist. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, dass viele der neu produzierten T90-Panzer dorthin geschickt wurden. Es gab auch immer wieder Berichte und Videos darüber, dass diese Kräfte für eine neue Offensive aufgefrischt wurden. Das Ziel scheint hier zu sein, weiter Richtung Oskil vorzustoßen - bis zu jenem Fluss also, an dem sich die Front ostwärts davon nach der ukrainischen Offensive bei Charkiw im letzten Jahr stabilisiert hat. Es scheint als ob die Russen mit der die 1. Gardepanzerarmee in einer Zangenbewegung bis zum Oskil vorstoßen wollen. Der Fluss selbst ermöglicht es den Russen, das Nachführen ukrainischer Reserven zu behindern. Man kann die geplanten Durchbruchstellen somit isolieren. Genau dieses Vorgehen wäre auch für die ukrainische Offensive wichtig.

Insgesamt ist die Situation demnach eher durchwachsen.

Ich würde die Situation zusammenfassend als das Elend eines Abnutzungskrieges bezeichnen. Ich habe ja schon ein paar Mal darauf hingewiesen: Wir befinden uns in diesem Krieg gewissermaßen im Jahr 1915 auf dem Weg zu 1916. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, aber mitunter folgt sie denselben Mustern. Beispielsweise sehen wir auf beiden Seiten eine Stoßtrupp-Taktik, die schon damals im Ersten Weltkrieg angewandt wurde. Dabei wird versucht, dem Gegner mit kleinen, überschaubaren Einheiten in Kombination mit der Artillerie Gebietsgewinne abzuringen. Man versucht, hinter dem Feuer der eignen Artillerie nachzurücken. Doch mit der Synchronisation dieses sogenannten Kampfes der verbundenen Waffen haben die Ukraine große Probleme.

Warum?

Vor allem, weil sie einige dafür notwendige Fähigkeiten nicht haben, zum Beispiel eine funktionierende Luftwaffe oder weitreichende Boden-Boden-Raketen, die in die Tiefe des Gegners wirken könnten. Das fängt schon bei der Aufklärung an: Die Russen haben gegenüber der Ukraine ein sehr gutes Lagebild, was nicht zuletzt daran liegt, dass permanent tausende Drohnen auf dem Schlachtfeld sind. Das gilt natürlich für beide, aber der Angreifer muss sich exponieren und wird somit sofort aufgeklärt.

Durch den Einsatz einer Vielzahl von kleinen, handelsüblichen Drohnen.

Genau, dadurch bleibt so gut wie keine Bewegung unerkannt. Das nächste ist: Aufgrund der stationären Einsatzführung haben die Russen sehr gute Mittel der elektronischen Kampfführung. Sie können den Gegner stören oder sogar die feindliche Kommunikation abhören und stören. Ohne Starlink ginge gar nichts. Ein weiteres Problem für die Ukraine ist, dass die Russen es mit ihren Kampfflugzeugen immer wieder schaffen, aufgeklärte Bereitstellungsräume der Ukraine anzugreifen: Wenn die Ukrainer sich darauf vorbereiten, zum Angriff überzugehen, wird das teilweise von den Russen erkannt, die sie daraufhin mit Streubomben angreifen. Wenn auf ukrainischer Seite der Anmarsch zur sogenannten Ablauflinie erfolgt - der Linie, von der aus der eigentliche Angriff beginnt -, dann kommen russische Kampfhubschrauber zum Einsatz, die die ukrainischen Kolonnen aus sicherer Entfernung angreifen. Nach der Abnutzung durch die Kampfhubschrauber fahren die Ukraine in das Artilleriefeuer der Russen und in das Feuer der Lancet beziehungsweise FPV-Drohnen. Und auch die Minenfelder sind nach wie vor ein Problem: Wenn vorne Minen geräumt sind, werden von den Russen hinten bereits neue verlegt. Kurzum: Wir sehen eine Reihe von Fähigkeiten auf der russischen Seite, bei denen die Ukraine immer noch Schwierigkeiten hat, dagegen wirksam zu werden.

Eine weitere Herausforderung für die Ukraine ist, dass sie immer stärker auf Reservisten angewiesen ist. Viele von den Soldaten, die eine sechsmonatige Ausbildung bei der NATO durchgemacht haben, gibt es nicht mehr. Ich habe gerade kürzlich mit einem ukrainischen Kameraden gesprochen: In einer Nachbareinheit haben sie einen 47 Jahre alten Reservisten als Kommandanten bekommen. Aus Unerfahrenheit hat der einen Zug seiner Soldaten per Befehl in die Minenfelder geschickt. Nur mehr die Hälfte kam zurück. Die Moral der Truppe hat das schwer getroffen.

Sie sagten schon Anfang des Monats, die erste Phase der Offensive sei gescheitert.

Als ich das sagte, folgte ein Aufschrei. Aber mittlerweile hat sich das herumgesprochen. Wie üblich sehen wir die ersten kritischen Berichte vor allem in den englischsprachigen - und hier vor allem in den amerikanischen - Leitmedien. Die Ukraine sagt, sie wolle es auf ihre eigene Art versuchen - mit der erwähnten Stoßtrupp-Taktik. Da ihr die Fähigkeiten für einen Kampf der verbundenen Waffen fehlen, hat die Ukraine auf der taktischen Ebene auch kaum einen großen Spielraum. Ein großer Durchbruch Richtung Melitopol oder Mariupol, wie man ihn sich eigentlich gewünscht hatte, scheint so jedenfalls vorerst nicht möglich zu sein.

Dann braucht die Ukraine Kampfflugzeuge und Raketen, um ihre Defizite auszugleichen?

Die Amerikaner sind immer noch sehr zurückhaltend, was die Lieferung von ATACAMS betrifft, also Boden-Boden-Raketen, die es der Ukraine ermöglichen würden, in der Tiefe des Raumes wirksam zu werden - gegen russische Kampfhubschrauber und -flugzeuge, gegen Reserven, gegen die Logistik und auch gegen die Führungsstrukturen der Russen. Auch bei der Lieferung von F16-Kampfflugzeugen stehen die USA auf der Bremse. Durch die Lieferung der Streumunition hat man versucht, eine Brücke zu bauen, um dann möglicherweise darauf aufbauend die nächsten Schritte zu setzen.

Die US-Regierung argumentiert laut "Washington Post", sie wolle genug Raketen zur eigenen Verfügung haben, und außerdem würden diese Raketen der Ukraine gar nicht so sehr helfen. Ist das glaubwürdig?

Ich beurteile die Situation als Militär. Eine Armee muss einen Werkzeugkasten zur Verfügung haben, um immer neue taktische Situationen lösen zu können. Zunächst braucht man die Grundwerkzeuge - also zum Beispiel Hammer, Zange, Nägel, Bohrmaschine, Schraubenschlüssel und so weiter. Wenn Sie das haben, dann haben Sie eine erste Basis für einen Erfolg. Darauf aufbauend können Sie sich die Arbeit leichter machen, indem Sie sich Spezialwerkzeuge besorgen. Aber erst einmal brauchen Sie den Grundstock. Schon hier fehlt der Ukraine einiges. Wenn man von der amerikanischen Seite hört, die Ukraine brauche dieses oder jenes nicht, dann ist das gegen jede militärische Logik. Natürlich braucht die Ukraine jetzt Kampfflugzeuge und Boden-Boden-Raketen. Man sieht ja, dass die wenigen eingesetzten Storm-Shadow- und Scalp-Raketen Erfolge erzielen.

Was könnte das Motiv für die Zurückhaltung der USA sein?

Aus meiner Sicht versuchen die USA, die Russen nicht zu sehr in die Enge zu treiben. Letztlich wollen die USA eine asymmetrische Situation in eine symmetrische umwandeln, mehr nicht. Das Elend ist, dass wir in einer Situation angekommen sind wie 1916, in der es keiner Seite gelingt, einen entscheidenden Erfolg zu erzielen. Das amerikanische Kalkül ist offenbar, darauf zu hoffen, dass die Russen es von selber einsehen. Das ist bislang allerdings nicht der Fall gewesen, trotz all dieser Ereignisse wie der sogenannten Prigoschin-Meuterei, Drohneneinsätzen über Moskau und der Ablösung von Generälen. Man beachte hier die Aussagen von Jake Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater im Kabinett von US-Präsident Biden.

Noch eine Frage zu den jüngsten Drohnenangriffen auf Moskau. Sind die aus Ihrer Sicht legitim?

Wenn Russland die Ukraine angreift, dann kann es ja wohl nur legitim sein, dass die Ukraine zurückschlägt, auch auf russischem Territorium. Bei der Kritik daran schwingt ein bisschen die Angst der Europäer durch, man möge die Russen nicht zu sehr reizen. Das finde ich sehr egoistisch gedacht. Die Ukraine versucht mit den Drohnenangriffen, den Krieg nach Russland zu tragen, um nicht nur selbst denn Terror der russischen Angriffe ertragen zu müssen, sondern der Bevölkerung in Moskau zu zeigen, was dieser Krieg bedeutet. Damit ist die Hoffnung auf einen Stimmungsumschwung verbunden. Das Problem ist aber auch hier: Die Angriffe auf Moskau sind spektakulär, aber noch lange nicht so umfassend, dass die russische Bevölkerung unter Druck geraten würde.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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