Politik

Reisners Blick auf die Front "Die erste Phase der Offensive ist gescheitert"

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Sowohl die Ukrainer als auch die Russen melden in den vergangenen Tagen Geländewinne, allerdings belaufen sich die nur auf wenige Hundert Meter. Die Situation lasse sich mit einem American Footballspiel vergleichen, sagt Oberst Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de. Beide Seiten rennen aufeinander zu und rammen Schulter gegen Schulter, bis einem der Durchbruch gelingt. Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Die Ukraine habe erkannt, dass sie nach der "gescheiterten ersten Phase" ihre Taktik ändern müsse. Das hat sie nun getan - mit Erfolg, so Reisner.

ntv.de: Die Lage im Osten der Ukraine sei derzeit "kompliziert", sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj. Was meint er damit?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: Die Front ist insgesamt knapp 1200 Kilometer lang und es gibt ein stetiges Wechselspiel der Ereignisse auf beiden Seiten. Die Russen verteidigen sich im Süden und versuchen im Osten mit kleinen Sturmgruppen Druck auf die Ukrainer aufzubauen. Im Nordosten bei Kubjansk gelingt es ihnen auch punktuell immer wieder begrenzt vorzumarschieren. Dort begünstigt vor allem das Waldgebiet die Vorstöße der Russen. Weiter südlich bei Kreminna und nördlich von Bachmut, beides ebenfalls räumlich ein großes Waldgebiet, ist die Situation ähnlich.

Welchen Vorteil haben die Russen im Waldgebiet gegenüber den Ukrainern?

Sie können sich hier relativ unerkannt bewegen. Man darf nicht vergessen, dass beide Seiten permanent tausende Drohnen am Himmel haben. Diese klären vor allem die Bewegungen des jeweiligen anderen auf. Im Sommer sind die Wälder wieder dicht bewaldet und bieten Schutz vor Beobachtung.

Wie sieht es mit Geländegewinnen der Ukrainer aus?

Südlich vom Bachmut ist es ihnen gelungen, punktuell sehr erfolgreich vorzustoßen, wie auch an den Stellen, die der Ausgangspunkt der Offensive in diesem Raum waren. Diese Vorstöße spielen sich zwischen 500 und 1000 Metern ab.

Das ist nicht besonders viel, oder?

Sie müssen sich das Gelände dort vorstellen wie ein Schachbrett. Die Linien zwischen den einzelnen Feldern sind Waldzeilen, auch Windschutzgürtel genannt. Wenn Sie eine dieser Linien erobern, dann beherrschen Sie das nächste Feld. Das Problem war, dass die Ukraine versucht hat, von einem Feld ins nächste zu ziehen wie mit einer Schachfigur und dabei schwere Verluste erlitten hat. Mittlerweile haben die Ukrainer ihre Taktik geändert. Sie versuchen jetzt, mit kleineren Kräften an den Trennlinien zwischen den Feldern vorzumarschieren, weil dort das Gelände günstiger ist.

Statt mit Panzerkolonnen rücken sie nun also mit Infanteriekräften zu Fuß vor?

Genau. Statt die Figuren von einem Feld direkt ins nächste zu ziehen, versucht man sie jetzt geschützt in den Windschutzgürteln vormarschieren zu lassen. Bei der Taktik werden die Fahrzeuge dafür verwendet, die Soldaten bis zu einer bestimmten Stelle zu transportieren, meist mit starkem Bewuchs oder im urbanen Raum, wie zum Beispiel ein bereits befreites Dorf. Von dort aus versuchen diese kleinen Gruppen vorzumarschieren. Das ist die gleiche Taktik, die auch die Russen seit Sommer letzten Jahres anwenden. Sie können so zwar keine großen Durchbrüche erzielen, aber sich Stück für Stück vorarbeiten. Denn wenn Sie eine dieser Linien zwischen den Schlachtfeldern erobert haben, dann beherrschen Sie automatisch das nächste Feld. Sie springen also von einer Waldzeile zur nächsten.

Die Russen behaupten, dass die Ukrainer mit dieser Taktik zwar schrittweise vorankommen, dabei aber auch hohe Verluste erleiden. Können Sie das bestätigen?

Erfolge zeigen sich meistens auch dadurch, dass Bilder von gefangenen oder getöteten Soldaten in den sozialen Netzwerken kursieren. Wenn die Ukrainer zum Beispiel eine Ortschaft eingenommen haben, dann sieht man Videos, auf denen getötete oder gefangengenommene russische Soldaten gezeigt werden. Diese Bilder gibt es zurzeit auf beiden Seiten. Es lässt sich kein eindeutiger Trend erkennen, der zum Beispiel auf einen Überhang an Bildern von russischen Gefangenen hindeuten könnte. Nur wenn es zu einer Intensitätserhöhung der Gefechte kommt, dann kann man das sehen. Momentan ist es aber immer noch so, dass entlang der gesamten Front eine Situation herrscht, die man als ein Fegefeuer beschreiben kann. Es ist ein stetiges Hin und Her.

Wie kommt es, dass die Ukrainer im Süden erfolgreicher sind als im Osten?

Das lässt sich von der Massierung der Kräfte ableiten. Die Ukraine hat im Süden, wo sie versucht, mit der Offensive in die Gänge zu kommen, mehr Kräfte eingesetzt als im Osten. Dazu kommt, dass im Osten vor allem die Kräfte, die zum Beispiel im Raum Bachmut eingesetzt sind, zum Teil noch von den Kämpfen der letzten Monate geschwächt sind. Interessant ist auch, dass die russische Seite teilweise mehr Kräfte im Nordosten zur Verfügung hat als im Süden. Die kampfstarken Verbände, wie zum Beispiel die Einheiten der 1. Gardepanzerarmee, sind nach wie vor im Nordosten eingesetzt und nicht im Süden, wo man sie eigentlich vermuten würde. Aufgrund dieser Kräftegegenüberstellungen ergibt sich die jetzige Situation. Das hat man zum Beispiel bei Cherson gesehen, wo die Russen es aufgrund der Damm-Sprengung geschafft haben, Kräfte in den Zentralraum abzuziehen und damit der Vorstoß der Ukrainer über den Dnipro von Erfolg gekrönt war. Die Russen haben hier wieder Zeit benötigt, um sich zu reorganisieren und dem Vorstoß entsprechend begegnen zu können.

Der Brückenkopf, den die Ukrainer bei der Antoniwka-Brücke am Dnipro errichtet haben, soll russischen Militärbloggern zufolge das russische Militär verzweifeln lassen. Konnten die Ukrainer dort in Richtung Süden weiter vorstoßen?

Die Situation hat sich für die Ukrainer in den letzten 48 Stunden wieder verschlechtert, weil die Russen es geschafft haben, bis unmittelbar zum Brückenkopf vorzustoßen. Das haben sie unter anderem auch durch den Einsatz von maritimen Kräften geschafft. Das heißt, sie haben zum einen mit Sturmbooten versucht dort anzulanden, den Brückenkopf selbst aber auch mit Iskander-Raketen beschossen und mit Gleitbomben bombardiert. Damit haben sie entsprechend Druck auf die Ukrainer ausgeübt, aber der Brückenkopf am Südufer ist noch immer vorhanden. Das Problem ist das schwierig zu überquerende Überschwemmungsgebiet. Das heißt, die Ukrainer sind noch nicht am Südufer und somit am Festland angekommen und die Russen haben sich mittlerweile in diesem Überschwemmungsgebiet vorgearbeitet. Das ist von vielen kleinen Flussläufen durchzogen. Das macht es so schwierig, in diesem Raum weiter vorzustoßen, weil sie dort vor schwierigen Hindernissen stehen.

Wie hilft der Brückenkopf den Ukrainern also?

Den Angriff im Süden kann man vor allem als Versuch der Ukraine interpretieren, weitere Kräfte der Russen hier zu binden. Nicht so sehr Kräfte am Boden, sondern vor allem Luftstreitkräfte der Russen. Auf russischer Seite muss jetzt umstrukturiert werden, damit der Brückenkopf bekämpft werden kann. Diese Kräfte, also zum Beispiel Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber, fehlen dann bei den Kämpfen im Zentralraum.

Noch hört es sich für die Ukraine aber nicht nach einem Erfolg an.

Die erste Phase der ukrainischen Offensive ist aus meiner Sicht gescheitert. Man hat versucht, wie aus einem Lehrbuch der US-Armee massiert vorzustoßen. Im Prinzip ähnlich wie die Russen am Beginn des Krieges, also mit Panzerkolonnen, die schnell vorwärtsgefahren sind. Dann haben die Ukrainer gemerkt, dass die Russen zu gut vorbereitet waren, um so einen Durchbruch zu erzielen. Und es fehlte ihnen an den notwendigen Unterstützungsmitteln für einen derartigen massierten Angriff. Die Ukraine hat dann eine operative Pause eingelegt, sich konsolidiert und versucht nun, ihre Taktik und Gefechtstechnik zu ändern. Und das ist die gute Nachricht, das haben sie jetzt getan. Sie versuchen, mit kleinen Sturmgruppen anzugreifen. Diese Taktik ist zwar sehr, sehr langsam, aber sie hat Erfolg. Denn im Vergleich mit einer Panzerkolonne, die relativ einfach im offenen Gelände - zum Beispiel mit Kampfhubschraubern - anzugreifen ist, sind sie im Schutz der Windschutzgürtel viel schwerer zu treffen und damit anzugreifen. Das spricht für die Ukraine, die es so schafft, doch Erfolge zu erzielen. Nur geht die Offensive so eben sehr langsam voran.

Und mit sehr hohen Verlusten.

Das ist das Dilemma an dieser Kampftechnik. Man hat aber bei der Kesselschlacht von Severodonetsk im Jahr 2022 oder auch in Bachmut im Mai dieses Jahres gesehen, dass diese Taktik durchaus Erfolg haben kann. Man darf auch nicht vergessen, dass die Russen sich nach ihrem Fiasko am Beginn ganz anders aufgestellt haben als noch bei den Offensiven von Charkiw und Cherson. Nach Schätzungen des US-Oberkommandierenden in Europa, General Cavoli, kämpfen etwa 350.000 bis 400.000 Mann auf russischer Seite, also das Doppelte seit Beginn des Krieges. Die haben sich natürlich entsprechend vorbereitet. Wir haben deshalb jetzt eine Situation wie bei einem American Footballspiel. Beide Seiten stehen in einer Ausgangsposition, dann rennen die Spieler beider Teams aufeinander zu, und entweder es gelingt ein Durchbruch oder man ist Schulter an Schulter eingehängt und versucht stärker zu sein als der andere. Die Frage ist, wer hat den längeren Atem?

Was braucht die Ukraine, um einen Durchbruch zu erzielen?

Für eine schnelle Entscheidung fehlt es noch immer an wesentlichen Elementen, wie zum Beispiel einer funktionierenden Luftwaffe oder auch eine hohe Anzahl von Präzisions-Waffensystemen. Darum ist die Diskussion gerade wieder hochgekocht, ob die USA nicht ATACMs, also Bode-Boden-Raketen liefern sollen, die eine Reichweite von bis zu 300 Kilometer haben. Damit könnte die Ukraine den Druck auf die russische Logistik und Führung erhöhen. Das wäre so, als würde man versuchen dem Football-Spieler, der gegenübersteht, den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Wir brauchen also in den nächsten Wochen nicht mit einem Durchbruch der Ukrainer zu rechnen?

Ich denke schon, dass wir in den nächsten zehn Tagen vor dem NATO-Gipfel eine Intensivierung der Gefechte sehen werden. Die Ukraine möchten noch einmal zeigen, dass sie in der Lage ist, Geländegewinne zu machen. Das würde dafürsprechen, muss aber nicht sein. Es kann auch sein, dass die Ukraine einfach stoisch mit ihrer neuen Taktik weitermacht, mit kleinen Sturmgruppen ein Schachbrettfeld nach dem anderen einzunehmen. Das ist ein sehr langwieriger Kampf, aber die Ukraine hat bereits gezeigt, dass sie das durchaus durchhalten kann.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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