Reisners Blick auf die Front "Für die Ukraine ist die Situation außerordentlich prekär"
12.06.2023, 15:35 Uhr Artikel anhören
Bild aus einem Video des russischen Verteidigungsministeriums, das nach russischer Darstellung die Zerstörung eines Leopard-Panzers zeigt - tatsächlich aber die eines Mähdreschers. Für die Ukraine läuft es aktuell trotzdem eher ernüchternd, sagt Markus Reisner.
(Foto: AP)
Es sei zu früh, um jetzt schon zu beurteilen, ob die ukrainische Offensive erfolgreich sein wird, sagt Oberst Markus Reisner - das habe auch das Beispiel eines russischen Vorstoßes bei Wuhledar im Januar gezeigt. Es sei auch nicht ungewöhnlich, dass in einer Offensive Verluste entstehen. "Ungewöhnlich ist aber, dass diese Verluste schon in der Gefechtsvorpostenlinie passieren; die schweren Verluste finden normalerweise erst in der ersten Verteidigungslinie statt." Der Oberst befürchtet, "dass die Ukraine bis zum NATO-Gipfel in Vilnius Erfolge vorweisen wollte, um die NATO-Staaten davon zu überzeugen, dass jetzt die nächsten Schritte nötig sind".
ntv.de: Gibt es überhaupt die eine Offensive oder sind es mehrere? Und ist schon eine Hauptstoßrichtung erkennbar?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: In den letzten Tagen seit dem 4. Juni haben wir Vorstöße an mehreren Stellen gesehen - ein Grund dafür ist sicherlich, dass die ukrainischen Streitkräfte so lange wie möglich versuchen wollten, zu verschleiern, wo das Schwergewicht ihrer Offensive liegt. Allerdings hat sich bei diesen Vorstößen leider bereits gezeigt, dass es dort für die Ukrainer zu schweren Verlusten gekommen ist. Auf den Bildern, die in den sozialen Netzwerken kursieren, kann man erkennen, dass vor allem Spezialgerät ausgefallen ist, das eine hohe Bedeutung hat, wenn es darum geht, die Verteidigungsstellungen der Russen zu zerschlagen. Das ist schon ziemlich ernüchternd.
Wo finden die Vorstöße statt?
Wir können die besetzten Gebiete grob in drei Räume einteilen: den Süden, also Cherson bis zum Dnipro-Knick bei Saporischschja. Dann den Zentralraum zwischen Melitopol und Mariupol. Und schließlich den Nordostraum mit Donezk und Luhansk bis hinauf nach Kupjansk. Aus jetziger Sicht lassen sich mehrere Stoßrichtungen erkennen. Das eine sind im Nordosten ukrainische Vorstöße bei Bachmut. Zentral gibt es Vorstöße nördlich von Mariupol - hier versucht man insgesamt, an drei Stellen gleichzeitig vorzustoßen. In den letzten 48 Stunden haben die Ukrainer nördlich von Mariupol auch kleinere Erfolge erzielt, sie konnten vier oder fünf Kilometer vorstoßen und drei Ortschaften einnehmen. Aber sie haben noch immer nicht die erste Hauptverteidigungslinie der Russen erreicht.
Und die dritte Stoßrichtung?
Die befindet sich ebenfalls im westlichen Zentralraum, nördlich von Melitopol, in der Gegend nördlich von Tokmak. Das ist die Gegend, bei der man davon ausgehen kann, dass sie möglicherweise der Schwergewichtsraum ist.
Warum?
Weil man gerade in dieser Gegend massiv sieht, dass Spezialgerät verloren gegangen ist - Gerät, das einem den Rückschluss erlaubt, dass hier der Zentralstoß stattfindet. Hier sehen wir auch die kampfkräftigen Leopard-Kampfpanzer und Bradley-Kampfschützenpanzer im Einsatz.
Was ist mit der Region von Cherson?
Der Südraum ist wegen der Sprengung des Staudamms vorerst für beide Seite nicht nutzbar. Das hat für die Russen den Vorteil, dass sie Reserven aus diesem Raum abziehen können, die sie dann für die Abwehr der ukrainischen Angriffe im Raum nördlich von Melitopol und Tokmak einsetzen.
Russland hat die Zerstörung von bis zu sieben Leopard-Kampfpanzern und über zehn Bradley-Schützenpanzern gemeldet. Ist das glaubhaft?
Die Zahlen sind wahrscheinlich sogar noch höher, und dazu kommt vor allem noch das Spezialgerät zur Minenräumung. Was wir im Moment an Analysematerial zur Verfügung haben, sind Bilder von der russischen Seite, weil die Ukraine derzeit schweigt. Aber die Qualität der Bilder lässt den klaren Rückschluss zu, dass dieses Gerät entweder zerstört wurde oder verloren gegangen ist. Nördlich von Tokmak, bei Orichiw, gab es zwei Vorstöße an zwei verschiedenen Tagen mit Minenräumgerät: einmal bei Mala Tokmatschka südwestlich von Orichiw, ein weiteres Mal unmittelbar südlich von Orichiw. Von den sechs Minenräumpanzern, die die Ukraine aus Finnland erhalten hat, sind mindestens drei zerstört worden. Dazu kommen vermutlich noch zwei deutsche Bergepanzer vom Typ Büffel oder Wisent. Hier hat die Ukraine offensichtlich wiederholt mit Unterstützung von Leopard-Kampfpanzern versucht, eine Gasse durch die russischen Minenfelder zu schlagen. Dabei sind rund sieben Leopard zerstört worden, von den Bradleys sogar noch mehr, laut CNN 16 der in die Ukraine geschickten 109 Schützenpanzer. Die Ukrainer haben also schon in den ersten Kilometern ziemlich schwere Verluste erlitten.
Welche Art von Waffen bräuchte die Ukraine jetzt besonders?
Was wir hier sehen, ist ein D-Day ohne Luftwaffe, und das ist genau das Problem. Das Durchbrechen einer Verteidigungsstellung bedarf einer hohen Synchronisation und Vorbereitung. Wenn es der Ukraine nicht gelingt, bei ihrer Offensive in irgendeiner Art und Weise die Luftherrschaft zu erringen, und sei es durch mitfahrende Flugabwehrsysteme, damit die russische Luftwaffe hier nicht eingesetzt werden kann, dann wird es schwierig. Die Ukraine hat zwar den einen oder anderen spektakulären Angriff durchgeführt, zum Beispiel mit Langstreckenraketen vom Typ Storm Shadow, die von Su-24M-Bombern in die Tiefe abgefeuert wurden, hinter die Verteidigungslinien der Russen. Damit versuchen sie, ganz gezielt Logistikknotenpunkte und Gefechtsstände anzugreifen. Aber was fehlt, ist die unmittelbare Luftnahunterstützung vor Ort, die den Gegner unter Feuer nimmt, während die Minenräumtrupps durchbrechen.
Ein weiterer Punkt: Die ukrainische Fliegerabwehr kurzer und mittlerer Reichweite hat offensichtlich nicht die Wirkung erzeugt, die eigentlich nötig wäre, unter anderem deshalb, weil die Russen elektronische Störer eingesetzt haben. Das hat dazu geführt, dass die Russen mit Kampfhubschraubern aus einer Distanz von bis zu acht Kilometern ein Fahrzeug nach dem anderen abschießen konnten. Und drittens ist die Artillerie zu nennen, wo es einen Mangel an verfügbarer Munition zu geben scheint, darunter auch Nebelgranaten, mit denen man eine Durchbruchstelle hätte tarnen können.
Es ist vermutlich noch viel zu früh, um zu sagen, wer aus dieser Offensive der Ukraine als Sieger hervorgehen wird, oder?
Ja. Ich möchte an den Januar erinnern, als die Russen einen Vorstoß bei Wuhledar versucht haben. Dort ist die 155. Marinebrigade der russischen Armee in ukrainische Minenfelder gelaufen. Viele Beobachter sagten damals, dass sei eine Katastrophe für die Russen. Aber wenn man in den Angriff geht, ist so etwas zu erwarten. Der Angreifer hat immer das Dilemma, dass er eine Überlegenheit von eins zu drei braucht - eins zu vier, wenn der Gegner eingegraben ist, im urbanen Gelände sogar eins zu acht. Dass jetzt Verluste entstehen, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber, dass diese Verluste schon in der Gefechtsvorpostenlinie passieren; die schweren Verluste finden normalerweise erst in der ersten Verteidigungslinie statt. Im Zentralraum hat die Ukraine von ihren zwölf Brigaden der Offensive mindestens vier eingesetzt, die auch signifikante Verluste erlitten haben. Vier von zwölf Brigaden, das sind ein Drittel der verfügbaren Offensivkräfte, es ist also noch einiges an Material da. Die Frage ist jetzt: Versucht die Ukraine, noch einmal an derselben Stelle vorzustoßen? Oder waren das Ablenkungsangriffe?
Was glauben Sie?
Gegen die These von den Ablenkungsangriffen spricht, dass die Ukraine hier das beste Gerät eingesetzt hat, über das sie verfügt, den Leopard oder Bradley beispielsweise und die sehr kostbaren Minenräumgeräte. Für Ablenkungsangriffe wäre das aus militärischer Sicht nicht klug. Das Gerät, das die Ukraine bereits verbraucht hat, hätte eigentlich erst zum Einsatz kommen sollen, wenn ihre eher untergeordneten Kräfte bereits Lücken in die Gefechtsvorposten geschlagen haben.
Einerseits muss man jetzt abwarten, was die nächsten Tage und Wochen bringen. Die Offensive hat vor knapp zehn Tagen begonnen, die intensive Phase zeitlich gestaffelt an mehreren Stellen ab dem 4. Juni. Aber andererseits muss man sagen, dass die Offensive ernüchternd wenig gebracht hat. Aktuell ist die militärische Situation für die Ukraine außerordentlich prekär. Ich befürchte, dass die Ukraine bis zum NATO-Gipfel in Vilnius Erfolge vorweisen wollte, um die NATO-Staaten davon zu überzeugen, dass jetzt die nächsten Schritte nötig sind.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu will bis 1. Juli die privaten Militärfirmen in die russische Armee eingliedern. Was ist von diesem Vorstoß zu halten - und was passiert, wenn Jewgeni Prigoschin das nicht mitmacht?
Ich bin nicht überzeugt davon, dass das, was wir hier sehen und hören, immer der Realität entspricht. Es kann gut sein, dass der öffentliche Streit zwischen Prigoschin und der Armee rings um die Kämpfe in Bachmut eine riesige Täuschung war, eine klassische Maskirowja - eine Maskerade in der Tradition der sowjetischen Armee, die verschleiern sollte, dass man längst dabei war, die Verteidigungsstellungen massiv auszubauen. Denn Prigoschin hat immer wieder Dinge gesagt, die sich als falsch herausgestellt haben. Während der Kämpfe in Bachmut beispielsweise hat er gesagt, seine Truppen hätten nicht genug Munition und nicht ausreichend Waffen. Tatsächlich hat er aber immer die besten Waffensysteme erhalten, etwa diesen verheerenden Mehrfachraketenwerfer vom Typ TOS-1. Und ganz grundsätzlich muss man bei diesem Streit sehen, dass Prigoschins Kritik nie auf Putin zielt, immer nur auf Schoigu oder den russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow. Das ist in Russland seit Jahrhunderten so: Der Zar achtet darauf, dass die Bojaren untereinander streiten, damit sie sich nicht gegen ihn verbünden.
Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de