
Auf Telegram zeigt Stremousow den "friedlichen Himmel" über Cherson - allerdings ist das Video im russischen Woronesch entstanden.
(Foto: t.me/Stremousov_Kirill)
Kirill Stremousow ist in Cherson seit Jahren als pro-russischer Hetzer bekannt. Er verbreitet Verschwörungstheorien, organisiert anti-ukrainische Proteste, verprügelt Opponenten. Als die Russen einmarschieren, erlebt Stremousow seine Sternstunde. Doch jetzt sind viele seiner Mitstreiter tot, und die Ukraine will die Stadt zurückerobern - der "Gauleiter" flüchtet in ein Luxus-Hotel in Russland.
Als Kirill Stremousow am vergangenen Montag im russischen Fernsehen ankündigt, die Referendumsvorbereitungen in der ukrainischen Region Cherson auf Eis zu legen, räumt der Vize-Chef der Besatzungsregierung gleichzeitig etwas ein, was er selbst ein paar Tage zuvor noch als Fake bezeichnet hatte. Die ukrainische Offensive im Süden des Landes läuft - und sie zeigt offenbar schon Wirkung.
Die Vorbereitungen für die Abstimmung über eine Zugehörigkeit der Region zu Russland seien vorerst gestoppt, sagt der ukrainische Kollaborateur. Hintergrund sei die Sicherheitslage. Dann nennt er ein Beispiel: Die wichtige Antoniwkabrücke sei durch die ukrainischen Angriffe so stark beschädigt worden, dass dort kein Autoverkehr mehr möglich sei.
"Friedlicher Himmel" über Cherson - in Russland gefilmt
Dabei wandte sich Stremousow erst Ende August an die Bewohner der Region und versicherte sie, alles sei in Ordnung. "Es gibt keine Probleme. Niemand greift uns an. Der Himmel ist friedlich. Gott ist mit uns", erklärte er in einer Video-Ansprache, die er auf Telegram veröffentlichte. Dabei zeigt er auf den Himmel im Hintergrund, während er vor einem Fenster steht.
Dieser Himmel wirkt wirklich "friedlich", denn es ist der über Woronesch, einer russischen Großstadt, fast 1000 Kilometer vom umkämpften Cherson entfernt. Seine Ansprache filmte der Kollaborateur in einem Fünf-Sterne-Hotel, wie Aktivisten und Journalisten anhand des Stadtpanoramas im Hintergrund feststellten. Stremousow sprach später zwar von einer "Dienstreise durch russische Städte", doch eins steht fest: Während der Kämpfe um Cherson ist der "Gauleiter" der Stadt, wie er in den lokalen Medien genannt wird, nicht vor Ort.
Kollaborateure leben gefährlich
Auch Stremousows Vorgesetzter Wolodymyr Saldo ist nicht da, allerdings aus einem anderen Grund. Der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung wurde Anfang August nach einer mutmaßlichen Vergiftung ins künstliche Koma versetzt und in ein Moskauer Krankenhaus geflogen. Seitdem ist von ihm nichts zu hören.
Das mutmaßliche Attentat auf Saldo ist kein Einzelfall. Allein in der Oblast Cherson wurden in den vergangenen Monaten mindestens sieben hochrangige Beamte der Besatzerverwaltung getötet. Mehrere weitere Kollaborateure überlebten Anschläge verletzt. Dass Stremousow im Angesicht der ukrainischen Gegenoffensive ein Luxus-Hotel im sicheren Woronesch seinem Amtssitz im besetzten Cherson vorzieht, dürfte niemanden wundern. Zumal der Überläufer als einer der größten Freunde Russlands in der Region bekannt ist. Der Aktivist organisierte bereits seit Jahren pro-russische Demonstrationen und hetzte öffentlich gegen ukrainische Politiker.
"US-Biolabore" und Stalin-Foto als Profilbild
Vor dem Krieg bezeichnete sich Stremousow als Journalist und bekannte sich zu einem exzentrischen Glaubenssystem, das auf einer Mischung aus der rechtsradikalen Version der Orthodoxie und dem esoterischen "Konzept der öffentlichen Sicherheit" beruht. Dabei handelt es sich um eine Verschwörungstheorie, die bei russischen Rechtsextremisten beliebt ist. Sie basiert auf der Vorstellung von der Existenz einer geheimen, meist jüdischen, Weltmacht, die sich gegen die russische Zivilisation stellt. Nach lokalen Medienberichten fielen die Anhänger dieser Bewegung in Cherson bereits nach der Maidan-Revolution 2014 auf - demnach organisierten sie pro-russische Demonstrationen und griffen immer wieder Stadtbewohner an.
Während der Coronavirus-Pandemie war Stremousow einer der Organisatoren von Protesten gegen Quarantänebeschränkungen. Auf seinem Youtube-Kanal, dessen Profilbild ein Stalin-Foto ist, veröffentlichte er Videos, in denen er den Behörden absichtliche Verbreitung von Covid-19 vorwirft und immer wieder von der angeblichen Existenz von "US-Biolaboren" in der Ukraine spricht - eine unbelegte Lüge, mit der der Kreml unter anderem den Einmarsch in die Ukraine rechtfertigte. 2020 kandidierte Stremousow für das Amt des Bürgermeisters von Cherson, erhielt aber lediglich 1,3 Prozent der Stimmen.
"Russischer Nationalist mit ukrainischem Pass"
In den Jahren zuvor sorgte der pro-russische Aktivist mehrmals für negative Schlagzeilen. 2017 schlug er im Gebäude der Stadtverwaltung einen Polizisten nieder. Ein Jahr später verletzte er mit einer Schreckschusspistole einen Wachmann eines öffentlichen Strands. Die Auseinandersetzung ließ er filmen und veröffentlichte das Video später auf Youtube. Auch mit mehreren weiteren Angriffen auf ukrainische Politiker und Beamte fiel er auf. Dabei kam der "russische Nationalist mit ukrainischem Pass" immer ungestraft davon, wie der ukrainische Politologe Wladimir Moltschanow in einem Beitrag bei Radio Liberty erklärte. Diese Zurückhaltung seitens der Polizei erklärt der Experte mit Stremousows Verbindungen zu wichtigen pro-russischen Politikern.
Im März 2022, einen Monat nach der Einnahme der Stadt Cherson, ernannten die Russen Stremousow zum Leiter der "zivil-militärischen Verwaltung" der gleichnamigen Oblast - eine bessere Kandidatur hätten sich die Besatzer kaum vorstellen können. Wenige Wochen später kündigte der dankbare Kollaborateur einen Brief an den Kreml mit der Bitte an, die Region auch ohne Referendum an Russland "anzuschließen". "Cherson will nach Russland", sagte der 45-Jährige damals. Für ihn persönlich geht der Wunsch offenbar in Erfüllung - in einem Fünf-Sterne-Hotel in Woronesch. Was seine Stadt angeht, so rückt die von ihm ersehnte Annexion angesichts der ukrainischen Offensive in weite Ferne.
Quelle: ntv.de