"Noch immer der 7. Oktober" Der Kibbuz Kfar Aza bleibt ein Ort des Grauens
07.10.2024, 10:19 Uhr Artikel anhören
Kfar Aza gedenkt der Opfer des 7. Oktobers.
(Foto: AP)
Vor genau einem Jahr wüten Hamas-Terroristen im Kibbuz Kfar Aza und massakrieren Dutzende Bewohner. Nur die wenigsten Überlebenden kehren an den Ort zurück, an dem der Terror noch allgegenwärtig ist. Andere fragen sich: Ist hier je wieder Leben möglich?
An einem sonnigen Tag stand Liora Eilon im Kibbuz Kfar Aza, an dem Ort, an dem ihr Sohn getötet wurde. Sie hob eine Figur aus den Habseligkeiten auf, die in einem seither unbewohnten Haus in der Nähe verstreut lagen. "Jedes Mal, wenn wir hierherkommen, hinterlässt uns Tal eine kleine Botschaft", sagte die 71-Jährige, während sie den kleinen Plastiksoldaten in ihren Händen wendete.
Vor einem Jahr stürmten Extremisten der Hamas den Kibbuz und töteten Tal Eilon, den 46-jährigen Kommandeur der Zivilschutzeinheit. Liora Eilon lebt heute in einem Universitätsschlafsaal im Norden Israels. Sie fragt sich, ob sie jemals ganz an diesen Ort zurückkehren wird, der in die israelische Geschichte eingegangen ist, als die Terroristen etwa 1200 Menschen in Israel ermordeten und rund 250 weitere als Geiseln verschleppten. Der Angriff löste den Gaza-Krieg aus, dem nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen bislang mehr als 41.600 Palästinenser zum Opfer fielen.
Etwa 50 der ehemals 1000 Einwohner von Kfar Aza sind zurückgekehrt. Sie leben inmitten von Häusern, die von Explosionen verbrannt und in Schutt und Asche gelegt wurden. Die übrigen Überlebenden sind über das Land verteilt. Sie berichteten von ihrer Angst vor künftigen Angriffen, von Bedenken gegenüber der israelischen Armee, der Regierung und Palästinensern im Gazastreifen. Einige fragten sich, ob man an einem solchen Ort jemals wieder leben kann. "Werden wir in einer Gedenkstätte leben? Werden wir alle paar Meter eine Plakette sehen, er wurde hier getötet und er wurde hier getötet?", fragte der 58-jährige Sohar Schpack. "Es ist noch immer der 7. Oktober."
Die Spuren dieses Tages sind auch ein Jahr danach noch gegenwärtig. Gärtner Rafael Friedman stößt im Boden von Kfar Aza noch immer auf Zähne und Knochen. Es dürfte sich um Überreste von Extremisten handeln, die bei Kämpfen getötet wurden. In Kfar Aza herrschte schon immer ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Bilder getöteter junger Menschen werden überall im Internet geteilt. Die Regierung sagt, sie wolle den Ort wieder aufbauen. In der Zwischenzeit errichtet sie Fertighäuser in einem anderen Kibbuz in der Nähe, den zwei Drittel der Einwohner verlassen wollen.
Einige sagten, sie seien unsicher, ob sie sich in Kfar Aza jemals wieder sicher fühlen könnten. Zuerst wollen sie erfahren, wieso es so lange dauerte, bis das Militär auf den Hamas-Angriff reagierte. Eine Untersuchung ist im Gange, doch Ergebnisse hat die Armee noch nicht veröffentlicht. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat Forderungen beiseite gewischt, vor dem Ende des Krieges Verantwortung für das zu übernehmen, was passiert ist.
"Noch immer der 7. Oktober"
Simona Steinbrecher fühlt sich, als stehe die Zeit still. An Entscheidungen ist nicht zu denken. Ihre Tochter Doron gehört zu 66 Israelis, die sich noch in Gefangenschaft befinden. Es wird vermutet, dass die Hamas im Besitz der Leichen von 35 weiteren ist. Die 65-Jährige hat Doron zuletzt in einem Propaganda-Video der Hamas gesehen. "Ohne Doron ist noch immer der 7. Oktober", sagte sie. "Und wir werden nicht nach Hause gehen, bis sie zu Hause ist."
Viele Einwohner von Kfar Aza wollen die Gedenkzeremonie der Regierung an diesem Montag boykottieren. Sie haben ihre eigene kleine Veranstaltung, bei der die Flagge des Kibbuz auf halbmast gesetzt wird. Sie sagen, sie bewunderten die Soldaten, die an diesem Tag kämpften, aber seien wütend auf die höheren Ränge, die sie für eine Kommandostruktur verantwortlich machen, die zusammenbrach, als das Kibbuz sie am meisten brauchte.
Eilon wird von Zorn und Erstaunen erfasst, wenn sie sich an die 35 Stunden des Horrors erinnert, die ihre Familie durchmachte. Als die Sirenen an jenem Samstagmorgen erklangen, dachte Eilon, es werde Minuten dauern, bis das Militär eintrifft. Doch es dauerte Stunden.
Die Familie verschanzte sich in ihrem Schutzraum. Ein Sohn und eine Tochter pressten die Tür zu, während bewaffnete Angreifer versuchten, hineinzugelangen. Ihre Enkelinnen Gali und Mika versteckten sich unter dem Bett. Eilon erhielt eine Nachricht, dass ihr Sohn Tal hinausgegangen sei, um zu kämpfen.
Sie hörten die Schreie
Zu fünft kauerten sie im Schutzraum, hörten die Schreie der Angreifer, Schüsse, wussten nicht, ob Tal tot oder am Leben ist. Israelische Soldaten errangen schließlich die Kontrolle über ihr Haus. Doch noch immer wurde die Familie nicht evakuiert. Erst am Sonntagnachmittag, als sich erneut Extremisten in dem Haus versteckten, holte die Armee sie hinaus.
Während sie rannte, sah Eilon, wie ein Panzer seine Kanone auf ihr Haus richtete. Er feuerte. Und das Gebäude stürzte in sich zusammen, begrub die Extremisten unter den Trümmern. Kurz nach ihrer Rettung erfuhr Eilon vom Tod ihres Sohnes. "Ich habe es die ganze Zeit gewusst", sagte sie. "Aber ein Teil von mir hat gehofft, dass er verletzt wurde, dass er bewusstlos in einem Krankenhaus liegt."
Während der Kampf tobte, rasten einige Einwohner in Militärjeeps davon. Hanan Dann erinnerte sich daran, wie sie draußen vor dem Kibbuz Soldaten sah, die aussahen, als warteten sie auf Befehle. "Ich wollte sagen, dass drinnen noch gekämpft wird, dass dort Menschen sterben", sagte sie. "Sie hätten sie retten können."
Tagelange Gefechte
Soldaten und Extremisten lieferten sich in Kfar Aza tagelang Gefechte. Am Ende hatten die Angreifer 64 Zivilisten und 22 Soldaten getötet und 19 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
In der Nähe steht ein verfallener Wasserturm, der an Be'erot Jitzhak erinnert, einen Kibbuz, der nach einer tödlichen ägyptischen Attacke 1948 zurückgelassen wurde, in dem Krieg, der nur wenige Stunden nach der Ausrufung der Gründung Israels ausbrach. "Ist das, wie Kfar Aza in zehn Jahren aussehen wird?", fragte Dann. "Nur ein Stopp an der Autobahn, auf den ich meine Kinder hinweisen kann?"
Selbst die, die zurückkehren wollen, wissen, das Kfar Aza nie wieder derselbe Ort sein wird. Schpack sagte, er verstehe, warum niemand ein Kind hierher bringen wolle. "Wie erklärt man, was hier passiert ist?"
Für einige ist das Schicksal des Kibbuz an Gaza geknüpft. Solange es keine Friedensvereinbarung mit den Palästinensern gebe, so glauben sie, werden sie wieder angegriffen werden. Eilon wünscht sich eine neue Regierung, die mit den Palästinensern redet, um "eine Regelung zu finden, damit wir gemeinsam auf demselben Land leben können". "Ich träume von dem Tag mit einem offenen Zaun von hier bis zum Meer, mit zwei Völkern, die zusammenleben."
Quelle: ntv.de, Julia Frankel, AP