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Ron Leshems "Feuer" "Israels Gesellschaft begeht Selbstmord"

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In "Feuer - Israel und der 7. Oktober" bringt Leshem seine ganze Erfahrung als Schreiber und Sammler von Informationen ein, um den Nahostkonflikt in all seinen Schichten darzustellen.

In "Feuer - Israel und der 7. Oktober" bringt Leshem seine ganze Erfahrung als Schreiber und Sammler von Informationen ein, um den Nahostkonflikt in all seinen Schichten darzustellen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Im Oktober 2023 schreibt Ron Leshem bei ntv.de über die Ermordung seiner Tante und die Geiselnahme seines Cousins. Aus dem Beitrag wird ein Buch. Denn der Israel-Hamas-Krieg wird auch zum Meinungskampf. Dagegen stemmt sich der israelisch-amerikanische Autor in "Feuer."

"Meine Tante und mein Onkel wurden lebendig verbrannt, aber in den Videos der Hamas sieht man noch Schlimmeres." Das schrieb der israelisch-amerikanische Serienmacher und Autor ("Euphoria", "Beaufort") Ron Leshem im Oktober 2023 bei ntv.de.

Er wollte als linksliberaler, homosexueller Friedensaktivist einen neuen Blick auf die Lage in Nahost nach dem Überfall auf Israel am 7. Oktobers 2023 und den damals beginnenden Gaza-Krieg eröffnen. Leshem benannte klar die Terrororganisation Hamas als Täter des Massakers von unvorstellbarer Brutalität. Sparte aber auch nicht an Kritik an der dysfunktionalen, historisch schlimmsten Regierung seiner Heimat Israel.

Seine größte Hoffnung: Mit dem ntv.de-Artikel die Aufmerksamkeit auch in Deutschland auf die Geiseln der Hamas zu lenken. Auf die kleinen Kinder und Babys, die aus dem Nachbarhaus seiner Tante im Kibbutz Be'eri entführt wurden. Auf seinen Cousin Itai, der von der Leiche seiner Mutter weggezerrt worden war. Und nicht zuletzt auf die 14 deutschen Staatsangehörigen unter den Geiseln. Ende November 2023 werden dann 12 der aus Be'eri verschleppten Geiseln von der Hamas freigelassen, darunter auch zwei der kleinen Nachbarskinder. Itai gehört nicht dazu.

"Da es so viele gibt, die sogar unumstößliche Fakten leugneten, hatte ich keine andere Wahl, als die unerträglichen Bilder und Ereignisse festzuhalten", sagt Ron Leshem.

"Da es so viele gibt, die sogar unumstößliche Fakten leugneten, hatte ich keine andere Wahl, als die unerträglichen Bilder und Ereignisse festzuhalten", sagt Ron Leshem.

(Foto: Rachel Tine)

Während er auf Nachrichten von seinem Cousin und anderen Freunden und Bekannten wartet, beginnt der Autor, ein Buch über die Ereignisse des 7. Oktober zu schreiben. "Nachdem ich so viele Jahre nur Fiktion geschrieben habe, ob Serien oder Bücher, hatte ich mir nicht vorstellen können, ein Sachbuch zu schreiben. Eigentlich entstand das Buch aus dem Beitrag für ntv.de heraus", berichtet Leshem. Der 47-Jährige schreibt gegen die existenziellen Ängste in seinem Kopf an. Er hofft auf eine therapeutische Wirkung, will die Zeit verkürzen, bis sein Cousin zur Familie zurückkehrt. Will die Geschehnisse und seinen Schmerz auf der Suche nach Wahrheit auch für seine kleine Tochter dokumentieren.

Für "Feuer. Israel und der 7. Oktober" kehrt Leshem zu seinen Wurzeln als Geheimdienstoffizier in der Armee und Journalist, der aus Kriegsgebieten berichtet, zurück. Mithilfe eines Rechercheteams sichtet er Material und Zeugenaussagen zu den Massakern auf dem Supernova-Festival, den Armeestützpunkten und Kibbuzim im Süden Israels.

"Es ist der bis dato am besten dokumentierte Massenmord der Geschichte. Gefilmt von den GoPro-Kameras der Hamas, von Überwachungskameras auf den Straßen, von Dashboard-Kameras in Fahrzeugen (...) und den Smartphones von Bürgern, die ihre letzten Augenblicke festhalten wollen, weil sie wissen, sie werden sterben." - Auszug aus "Feuer. Israel und der 7. Oktober".

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Minute für Minute zeichnet er die Vorfälle auf, zeigt die von der israelischen Seite unterschätzte Entschlossenheit und Methodik der Terroristen wie auch das komplette Versagen der israelischen Armee und Regierung auf. Stundenlang flehten Menschen ihre Familien, die Polizei, die Armee an, Hilfe zu schicken. Selbst Fernsehsender und Onlinemedien wurden mit Nachrichten geflutet. Am Ende kommt die Hilfe für mehr als 1200 Menschen zu spät.

"Der Staat war wie ein Turm aus Sand in einer Staubwolke eingestürzt. Es gab keine Polizei, keine Armee, keine Generäle und keine politische Führung mehr. Ein Staat ließ seine Bürger im Stich und verriet sie."

Dieser Teil des Buches ist besonders hart zu lesen, auch wenn die einzelnen, parallel stattfindenden Ereignisse knapp und im Nachrichtenstil abgehandelt werden. Doch Leshem begnügt sich nicht damit, den 7. Oktober chronologisch abzuhandeln. Er will wissen, wie es dazu kommen konnte. Wieso hat niemand aus der israelischen Armee den Aufklärerinnen geglaubt, die wochenlang vor genau so einem Überfall gewarnt hatten? Was hat sich die Regierung Netanjahus davon versprochen, die Hamas jahrelang wie einen pragmatischen, verlässlichen Partner zu behandeln?

Leshem führt den Leser zurück in die Anfänge des Konflikts, zurück zur Staatsgründung Israels, zur Vertreibung der Palästinenser, zu den Narrativen, die damals entstanden sind und bis heute Hass auf allen Seiten nähren. Und er geht jedem Hinweis nach, der die aktuelle Lage erklären könnte: Wann fing die Spaltung der israelischen Gesellschaft an, wie veränderte der Aufstieg der Hamas das Leben in Gaza, besonders für Frauen, Homosexuelle, Gegner des islamistischen Regimes? Wie konnte die aktuelle Regierung seiner Heimat, die so weit rechts steht, wie keine israelische Regierung zuvor, wie konnte dieser "Zirkus aus vulgären Figuren" überhaupt an die Macht kommen? Was hatte es mit den wochenlangen Protesten gegen Netanjahu und die Justizreform auf sich?

Der Autor blickt schließlich in die Zukunft: Wie sollen wir alle weitermachen, in einer Welt, in der bereits jetzt jeder meint, sich aussuchen zu können, an welche Fakten er glaubt und welche Wahrheit er leugnet? Für Leshem ist das, was in seiner Heimat passiert, ein Fenster, ein Spiegel vieler dunkler Ereignisse und Aspekte, die in der nahen Zukunft den demokratischen Gesellschaften bevorstehen: "Ich habe das Gefühl, ich sehe zu, wie eine Gesellschaft Selbstmord begeht. Wie ihre Führung sie beerdigt. Wie der endlose Crash eines Hochgeschwindigkeitszuges", berichtet der Autor.

Leshem betont immer wieder, dass sein Blick in diesem Buch auf die israelische Gesellschaft gerichtet ist, einfach, weil er aktuell keinen Zugang zum Gazastreifen hat. Einzige Ausnahme sind die kurzen, telefonischen Gespräche mit einer Freundin, die dort ist. Nachdem sie Leshem ihren Alltag und ihre Verzweiflung schildert, nachdem er unzählige Videos aus Gaza angesehen hat, in dem Eltern ihre toten Kinder im Arm halten, schwört er, nicht aufzuhören, sich diese Bilder anzusehen. Und stellt gleichzeitig fest: "Ich kann nicht mehr."

"Die gemäßigten Muslime sind meine Brüder"

Um seine eigene kulturelle Prägung zu zeigen, teilt Leshem die Geschichte seiner Familie (europäisches Judentum) und die seines Lebensgefährten (orientalisches Judentum). Er zeigt auf, welche Ereignisse ihn warum berühren, aber das Besondere an diesem Buch ist: Er verlässt sich nicht auf seine Emotionen, sondern sucht nach so vielen Informationen aus verschiedenen Quellen wie möglich, um sich überhaupt ein Urteil über Ereignisse bilden zu können. Denn für ihn gibt es nur ein Ziel, das man verfolgen sollte: das des liberalen, toleranten Miteinanders.

"Die gemäßigten Muslime sind meine Brüder, ich bin ihnen näher und ähnlicher als jedem anderen Volk auf der Welt. Die Fanatiker meines eigenen Volkes hingegen sind meine Feinde. Wird die Politik weiterhin von religiösen Zielen geleitet, befinden wir uns auf einem mörderischen und fatalen Pfad."

In "Feuer. Israel und der 7. Oktober" bringt Leshem seine ganze Erfahrung als Schreiber und Sammler von Informationen ein, um den Nahostkonflikt in all seinen Schichten darzustellen. Wenn die Leser diese Komplexität aus dem Buch mitnehmen, egal, wie weit sie angesichts des harten Themas bei der Lektüre überhaupt kommen, dann hat Leshem viel geschafft. Denn dieses Verständnis ist die Grundlage, auf der nach Lösungen für all die Menschen in dieser Region gesucht werden kann.

Die ersten Entwürfe dafür liefert der Autor am Ende gleich mit. Kompromisse und Verzicht werden beide Seiten hinnehmen müssen. Manche Idee einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blüte für die Region klingen fiktional, utopisch, wie Leshems Serien und Bücher, aber: "Die Möglichkeit eines Friedens muss beiden Seiten Hoffnung bieten auf einen vollkommenen Neuanfang. Eine Hoffnung, die sogar größer ist, als das erlittene Trauma." Aber auch das Gegenteil kann passieren - die Möglichkeit, dass Israel aufhören wird, zu existieren, erscheint vielen Israelis realer und greifbarer als je zuvor.

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"Das Absurde ist: Wenn die Hamas ihr Ziel erreichen und Israel verschwinden sollte, würde auch Palästina und seinen Nachbarn widerfahren, was in der umliegenden Region schon längst passiert. Wenn Völker sich in Bürgerkriegen derart gegenseitig abschlachten, liest die Welt nicht mal mehr in den Randnotizen der Presse oder in den sozialen Medien darüber. Wie derzeit weit südlich von Gaza, im Sudan."

Die Nachricht vom Tod seines Cousins erreicht Leshem, noch bevor er das Buch beenden kann. Itai war eine der drei Geiseln, deren Bilder von der Hamas wie in einer Reality-Show präsentiert wurden: "Was denkt ihr, was mit ihnen passiert ist? A. Alle wurden umgebracht. B: Ein Teil wurde umgebracht, die anderen sind verletzt. C. Sie sind am Leben. Morgen Abend werdet ihr es erfahren."

Quelle: ntv.de

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