Panorama

Michel Friedman über "Judenhass" "Antisemitismus trifft am Ende alle"

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Mehr Antisemitismus führt nicht dazu, dass sich Michel Friedman hilflos oder deprimiert fühlt - im Gegenteil: Er ist bereit, sich noch mehr anzustrengen, um Vernunft und Zivilisation voranzutreiben.

Mehr Antisemitismus führt nicht dazu, dass sich Michel Friedman hilflos oder deprimiert fühlt - im Gegenteil: Er ist bereit, sich noch mehr anzustrengen, um Vernunft und Zivilisation voranzutreiben.

(Foto: Gaby Gerster)

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel wird Michel Friedman immer wieder gefragt, wie er sich fühlt. In seinem Buch "Judenhass" fragt er zurück: "Und wie fühlen Sie sich damit?" ntv.de erzählt er von den Antworten.

Die Metapher "Wehret den Anfängen" kann Michel Friedman nicht mehr hören. "Wenn die Anfänge abgewehrt worden wären, wären wir jetzt nicht, wo wir sind", sagt er im Gespräch mit ntv.de. In den vergangenen Monaten gab es in Deutschland wiederholt Hetze gegen Juden an den Universitäten, gewalttätige Übergriffe auf hebräisch sprechende Menschen auf den Straßen und Demonstrationen, auf denen "Tod den Juden" geschrien wurde.

Gleichzeitig gab es nach dem Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 trotz der grausamen Bilder bei Social Media, der Toten, der Vergewaltigungen und Geiselnahmen, auch hierzulande keinen gemeinsamen Aufschrei gegen den Terror. Es gab vereinzelt Nachfragen an jüdische Mitbürger, wie sie sich fühlten, auch bei Friedman. "Wenn ich dann die Frage zurückgebe, werde ich erstaunt angeschaut", schreibt er in seinem neuen Buch "Judenhass": "Manche sagen dann: 'Ich kann ja nicht fühlen wie Sie, aber es tut mir für Sie leid.'" Er antworte dann: "Warum können Sie nicht so fühlen wie ich? Es sind doch Menschen brutal ermordet worden. Von Terroristen. In diesem Fall waren es jüdische Menschen. Judenhass ist Menschenhass. Sie sind doch ein Mensch?"

Friedman ist nicht nur als Publizist, sondern vor allem als intensiver Fragesteller bekannt. Auch in seinem Buch stellt er Fragen. An die Gleichgültigen, die Antisemiten, die Politik. Schreibt den Jüdinnen und Juden, Christen und seinen Söhnen Briefe und will über das Menschsein, Empathie und Demokratie sprechen. Alles Dinge, die er in Gefahr sieht. Dass Friedman ebenso um die zivilen Opfer in Gaza weint, dass er von der israelischen Regierung Netanjahus nichts hält, dass er für eine Zwei-Staaten-Lösung ist, das hat der 68-Jährige in unzähligen Interviews erzählt. Warum? Weil er immer danach gefragt wird, obwohl er deutscher Staatsbürger ist. Aber auch wenn ihn das ärgert, er antwortet schließlich doch immer wieder. Weil es ihm um Menschen geht.

ntv.de: Ich frage Sie jetzt auch einmal: Wie geht es Ihnen, Herr Friedman? Wie blicken Sie gerade auf die Welt?

Michel Friedman: Ich bin äußerst ambivalent. Und besorgt.

Warum?

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Weil sehr viele Menschen nicht wahrnehmen, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert sein wird, in dem vieles, was wir im 20. Jahrhundert als selbstverständlich und langfristig haltbar empfunden haben, sich dann doch verändern wird. Die Führungen Russlands und Chinas sagen ganz öffentlich, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Autokratien und nicht mehr der liberalen Demokratien sein soll. Das konkrete Beispiel ist die Ukraine, in der Russland die Autonomie und die völkerrechtliche Realität eines Staates einfach infrage stellt.

Was ist mit den Demokratien der westlichen Welt?

Die USA sind eigentlich das Land, das liberale Demokratien bisher geschützt hat. Nun haben wir bei der Präsidentschaft von Donald Trump erlebt, wie eine Demokratie auf ganz andere Art und Weise erschüttert werden kann. Nämlich mit der Frage: "Was ist eine Tatsache, was ist eine Lüge, also Fake News?" Das alles trifft dann auf die größte technische Revolution seit Menschheitsgedenken, nämlich die digitale. Künstliche Intelligenz, Robotik und damit ein neues Verständnis davon, was der Mensch in der Welt ist. Aber vor allem bringt all das die Möglichkeit des Missbrauchs der Kommunikationsmittel mit sich, die genau von solchen autokratischen und machtbesessenen Ländern in eine Propaganda umgesetzt werden kann, wie der Mensch es noch nie erlebt hat.

Propaganda gab es schon immer in der Politik, aber es wird schwieriger, sie zu enttarnen.

Es gab immer Propaganda, es gab immer Lügen, auch im Politischen. Aber Menschen verlieren zunehmend die Fähigkeit, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Schauen Sie sich die 10- bis 15-Jährigen an. Die haben zu über 60 Prozent nur noch eine Quelle, nämlich Tiktok. Das wird sich ändern, wenn sie 15 bis 25 Jahre alt sind, aber nicht mehr bei allen. Aber Tiktok ist nichts anderes als die Propagandamaschine der Autokraten. Hier sehen Sie in einer Dramatik, in welch eine gefährliche Welt wir gehen. Wie soll Demokratie organisiert werden, wenn Lügen als Tatsachen akzeptiert werden? Das führt dazu, dass Entscheidungen auf völlig falschen Grundlagen getroffen werden.

Dieses Thema betrifft auch unseren Alltag in der Redaktion, besonders im digitalen Nachrichtengeschäft.

Genau. Alles, was wir anbieten, auf ntv.de oder anderen Nachrichtenportalen, ist gut und schön. Aber es ist eben nicht mehr die Kerninformationsquelle für viele. Und der letzte Punkt, an dem wir nicht mehr vorbeikommen: die Umwelt. Hier stellt sich die große Frage der Gerechtigkeit. Die Umwelt schafft Realitäten, die wahrscheinlich in einer friedlichen und kooperativen Welt nicht mehr lösbar sind. Aus all dem entstehen Kriege, Aggressionen, wie wir sie auch in Europa nicht mehr dachten zu erleben. Wir erkennen, dass die Welt überall explodieren könnte, dass sie unsicher ist. Was nicht heißt, dass sie so bleibt, dass wir hilflos sind. Aber diese radikale Transmission, diese Geschwindigkeit, hat es so noch nicht gegeben. Der Mensch - ich bin ja, wie Sie wissen, auch Philosoph - der Mensch braucht einen längeren Zeitraum, um diese Transformationen zu verarbeiten. So entsteht ein ganz gefährliches Momentum und Vakuum. Was daraus wird, das sehen wir in vielen Bereichen unseres Alltags.

Einen Bereich, der Ihren Alltag betrifft, zufälligerweise auch meinen Alltag, haben Sie in Ihrem neuen Buch beschrieben, das Sie "Judenhass" genannt haben. Wollten Sie mit diesem eindeutigen Titel Diskussionen darüber, was denn nun Antisemitismus ist, aus dem Weg gehen?

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass der Begriff Antisemitismus, ein Fremdsprachenbegriff, Distanz schafft und damit hilft, uns zu verstecken. Das Elementare beim Antisemitismus ist der Hass. Und der Hass hat Hunger und der Hass ist nie satt. Wir müssen darüber reden, dass es um Hass gegen Menschen geht. Jüdische Menschen, schwarze Menschen, schwule Menschen, weibliche Menschen. Aber immer Menschen. Wir müssen über Aufklärung reden, diesen großartigen Gedanken der Menschenrechte. Ein Anspruch, den wir wahrscheinlich nie zu 100 Prozent erfüllen können. Aber den wir wenigstens als Gegenbegriff des Hasses haben wollen. Mir war es wichtig, die Emotion, die hinter all dem steckt, zu benennen. Ich war nach dem 7. Oktober nicht mehr bereit, die verharmlosende Wirkung des Begriffes Antisemitismus zu verbreiten. Am Ende ist es ganz banal der Hass gegen eine Menschengruppe.

Zu hassen bedeutet für mich, zu simplifizieren. Zudem lässt man Zweifel an der eigenen Meinung weg.

Ja, genau. Das ist ein absolutes Gefühl, da haben Sie vollkommen recht. Wenn Sie Rassismus und Judenhass betrachten, sind die, die Hass verstreuen, Argumenten nicht zugänglich, weil es ein affektiv gesteuertes Gefühl ist und Sie gegen Gefühle nicht argumentieren können. Was Sie versuchen, ist Differenzierung. Um etwa Vorurteile aufzubrechen durch Information. Wenn Sie aber mit Hassenden zu tun haben, wird diese Therapie nicht wirken. Ich werde ja oft gefragt: Würden Sie mit Herrn Höcke diskutieren? Mein Problem ist nicht, dass ich nicht mit Herrn Höcke diskutieren will, sondern er nicht mit mir. Ich bin ein, in Anführungsstrichen, "nicht satisfaktionsfähiger Mensch", weil ich Jude bin. Aber wenn die gegenseitige Anerkennung nicht stattfindet, kann ich sagen, was ich will. Er wird immer abwinken und sagen "Typisch jüdisch". Deswegen ist Aufklärung so schwierig. Ich plädiere dafür, dass wir so früh wie möglich im Unterricht ein Fach haben, wo wir lernen, wie wir Vorurteile dekonstruieren können. Es gibt diese Instrumente. Aber nicht, indem wir den Kindern nur sagen: "Das ist falsch, das ist pfui."

Sondern ihnen Denken beibringen.

Ja, genau. Warum sagt man das? Warum sagt Papa das? Und Papa, wo sind deine Argumente? Diese Instrumente benötige ich als 68-Jähriger übrigens immer noch.

Seit Sie das Buch geschrieben haben, im Dezember 2023, ist viel passiert. Es gab Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, die mit dem Israel-Gaza-Krieg in einen Kontext gebracht wurden, obwohl die meisten Juden hierzulande deutsche Staatsbürger sind. Es gab auch Demonstrationen gegen Rechts nach der Recherche von "Correctiv".

Die Demonstrationen, die stattgefunden haben, waren nicht unmittelbar und auch nicht kausal begründet mit dem Judenhass. Dennoch bin ich sehr glücklich, dass das stattgefunden hat. Aber ich kann sie nicht zum Trost einordnen, dass das die nachträglichen Demonstrationen waren, um Judenhass zu bekämpfen. Auslöser waren vielmehr die dann doch sichtbar gewordenen, dramatischen Überheblichkeitsfantasien, die ihren Ursprung in einem antidemokratischen, völkischen Denken haben.

Unmittelbar nach dem 7. Oktober waren in den Medien überall Bilder des Gewaltexzesses zu sehen. Sie schreiben in Ihrem Buch, die Botschaft der Terroristen sei sehr klar gewesen: "Juden sind keine Menschen". Doch statt Solidarität gab es weltweit, auch hierzulande, Schweigen und eine Zunahme antisemitischer Straftaten. Hätten Sie sich so etwas vorstellen können?

Ja.

Das war eine sehr schnelle Antwort. Ich hätte ehrlich gedacht, dass mit dem gleichen Entsetzen und der Trauer, die über den nachfolgenden Krieg und den zivilen Opfern in Gaza herrscht, auch um die zivilen Opfer und Geiseln in Israel hätte geweint werden können. Bei einigen Geiseln handelte es sich schließlich um deutsche Staatsbürger. Zudem waren viele Opfer des 7. Oktobers Friedensaktivisten und dafür bekannt, sich seit Jahren gegen die Regierung Netanjahu einzusetzen. Die Familien der Geiseln tun dies zum Teil bis heute, demonstrieren für eine Waffenruhe.

Ich engagiere mich seit 50 Jahren. Ich bin jetzt 68 Jahre alt. Ich war mit 17 Jahren Schulsprecher. Mit 18 Jahren schon sehr politisiert. Mit Mitte 20 war ich im Vorstand der Gemeinde, zu einer Zeit, als ich noch mit den echten Nazis zu tun hatte, die in diesem Land mit weißen Tapeten, Wirtschaftswunder und Verdrängung ohne wirkliche Selbstreflexion, mit vielen Ausnahmen, ihre Zukunft gebaut haben. Und die in dieser Spirale des Schweigens und auch der Legendenbildung ihre Kinder erzogen haben, die jetzt auch um die 60 Jahre alt sind. Es gab keinen Tag in diesem Land, ich kann jetzt nur von Deutschland sprechen, wo der Judenhass nicht existierte. Es gab keinen Tag in diesem Land, wo es nicht Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus gegeben hätte. Wenn Sie das alleine als 20- bis 30-jährige Nachkriegserfahrung bis in die 80er, Anfang 90er nehmen, dann wissen Sie, dass da überhaupt nichts Überraschendes war.

Was ist mit den Übergriffen auf jüdische Studenten an den Universitäten?

Die Linke war in Deutschland schon Mitte der 1960er-Jahre, genauer nach dem Sechstagekrieg 1967 in Israel, an den Universitäten genauso unterwegs. Wenn israelische Botschafter zu Besuch kamen, wurde damals unter der Ziffer "Antizionismus" der imperialistische Staat Israel, genau wie heute, als eine unerträgliche Realität beschimpft und bekämpft.

Aber die Zeiten lassen sich nicht 1:1 vergleichen.

Neu ist der auf Israel bezogene Antisemitismus, der sich bei der extremen Linken und bei den extremen Muslimen darstellt. Nicht bei "den" Muslimen, aber bei denen, die extremistisch radikalisiert sind. All diese Entwicklungen führten dazu, dass die meisten Solidaritätserklärungen von den politisch Verantwortlichen nichts anderes als ein Muster ohne Wert waren. Die Metapher "Wehret den Anfängen" kann ich überhaupt nicht mehr hören. Wir sind mittendrin. Das "Nie wieder ist Jetzt" kann ich auch nicht hören. Es ist jetzt ein "Wieder". Nehmen Sie die Berlinale. Die politischen Verantwortlichen hatten versprochen, dass sie dafür sorgen werden, dass das Filmfest nicht missbraucht wird. Als es dann bei der Preisverleihung missbraucht wurde, blieben sie schweigend sitzen, anstatt endlich mal aufzustehen und das, was sie versprochen haben, in irgendeiner Form zu vitalisieren.

Sie haben sich in Ihrem Buch an einer Erklärung für ein solches Verhalten versucht. Ich zitiere sinngemäß: "Vielleicht ist dieses Schweigen einfach Ausdruck einer Gleichgültigkeit gegenüber den Juden. Ergebnis einer emotionalen Reaktion auf das Schweigen in den Familien nach dem Zweiten Weltkrieg." Ich weiß, was Sie meinen, aber mir reicht es nicht als Erklärung. Geschwiegen wurde nach dem Holocaust auch in den Opferfamilien.

Aber wir können das gerne vertiefen. Sehen Sie, es gibt zwei Ebenen, wie Menschen kommunizieren. Das ist die in Worten und Erklärung stattfindende Kommunikation. Da ist in der Tat auch in vielen Familien der Überlebenden nicht, oder wenig, gesprochen worden. Denn wie soll eine Mutter erklären, dass sie im Rahmen der Gewalterfahrung der Shoah beispielsweise mehrmals vergewaltigt wurde? Wie sollen die Opfer ihren Kindern von ihrer Entmenschlichung erzählen? Aber es gibt eine andere Kommunikation, die immer stattgefunden hat, und das war die emotionale. Es gibt kaum Familien der Shoah und deren Kinder - und ich kenne viele, ich gehöre ja zu dieser Generation -, in denen nicht emotional die Verzweiflung, die Trauer, der Verlust von Urvertrauen, die Angst ununterbrochen kommuniziert wurde. Weil diese Dinge nicht verdrängt werden können. Ich beschreibe das in meinem Buch "Fremd". Eine Freundin sagte einmal vor vielen Jahren zu mir: "Die reden über Argumente und wir reden über Gefühle." Das ist der Punkt, den ich erklären will. Empathie.

Aber wo ist die Empathie hin?

Empathie kann nicht stattfinden, wenn der Schmerz, den die Eltern damals anderen zugefügt hatten, nicht thematisiert wurde. Diese Eltern hätten damals sagen können: "Es tut mir so leid, ich leide darunter, was ich tat." All das wurde in den Täterfamilien nicht problematisiert.

Deshalb wird heute Empathie nur für ausgewählte Gruppen empfunden?

Genau, diese Empathie hat sich auch am 7. Oktober nicht eingestellt. Aber ich will das nicht verallgemeinern. Es gab auch Empathie. Aber es sind die wenigen und nicht die vielen.

Ich war dabei, als Sie in Berlin die Buchpremiere von Mirna Funk moderiert haben. Sie haben sich auf der Bühne offensiv über die Anwesenheit derer, die Sie in den Wochen seit dem 7. Oktober so vermisst haben, gefreut. Ich vermute, es war nicht die erste Gelegenheit, wo Sie vom Publikum eine Umarmung eingefordert haben. Wie reagieren denn die Leute?

Es ist ganz erstaunlich. Wenn ich das sage, kommen einige Menschen auf mich zu und ich merke ihre Erleichterung, dass sie die Gelegenheit haben, dieser Aufforderung nachzukommen, obwohl sie es zuvor vielleicht gar nicht so empfunden haben. Aber erstens: Wenn man um eine Umarmung wirbt, ist es schwierig. Und zweitens sind es ganz wenige. Und drittens wissen wir beide, dass die Umarmung natürlich nicht reicht, sondern dass das eine Metapher ist. Die Umarmung ist nicht nur die Umarmung an sich, sondern Umarmen ist ein Schutz, auf den ich mich verlassen will. Ich bin in den vergangenen Jahrzehnten vielen Menschen und Freunden begegnet, die mich umarmen, schützen, bei mir sind, zuhören. Aber für die Gesamtgesellschaft kann ich Empathie nur mit großem Zweifel attestieren.

Ihr Buch könnte man auch als den Versuch oder das Bemühen lesen, in den Dialog zu treten. Sie schreiben Menschen direkt in Briefform an, etwa die Gleichgültigen, die Jüdinnen und Juden, Christen, Antisemiten, die Politik. Haben Sie Briefe zurückerhalten?

Nein.

Nicht einen?

Nein. Aber das Buch ist ein Angebot, nachzudenken und zu begreifen. Und deswegen heißt es "Judenhass". Die Naivität abzulegen, dass sich irgendwer vor dem Hass schützen könnte. Hass lebt in einer autoritären Gewaltgesellschaft. Er braucht einen Staat, der diese Gewalt legitimiert. Seit es eine Partei des Hasses in diesem Land gibt und diese Partei erfolgreich ihren Weg geht, ist die Bedrohung für alle Menschen groß. Jeder muss sich bewusst machen, dass ein autoritärer Staat entsteht, wenn diese Partei gewinnt. Dann kommt die Gewalt vom Staat und der Politik selbst und das war in den vergangenen Jahrzehnten nicht der Fall. Das war von 1933 bis 1945 der Fall. Darum bin ich sehr ernsthaft besorgt, dass eines Tages auch hier, wie in Ungarn oder Amerika, Bücher über Schwule verschweißt werden müssen. Dass dort, wo der Hass ist, er am Ende alle trifft, das versteht die Gesellschaft hier aber emotional und kognitiv weiterhin nicht. Das ist auch ein Versuch des Buches und es ist gleichzeitig ein leidenschaftliches Plädoyer.

Ich würde auf jeden Fall auf Ihre Einladung eingehen, dass wir uns alle verabreden sollten, aufeinander aufzupassen. Ich lebe in Berlin und hier haben sich zuletzt, also schon bevor die Juden sich massiv unwohl fühlten, andere unwohl gefühlt.

Mit Gründen, die Gewalt an den Unis, die Gewalt auf den Straßen.

Es wird kein Hebräisch mehr hier auf der Straße gesprochen.

Ich bewerte niemanden in seinen Entscheidungen. Ich trage meinen Davidstern, er ist ohnehin mit meinem Namen eingraviert. Aber ich kann es nur für mich sagen. Ich habe Kinder. Das Thema ist brutal. Meine Eltern waren nach dem Holocaust in Deutschland sehr darauf bedacht, dass man nicht merkte, dass wir Juden sind. Und ich wusste, warum. Die Mörder waren noch da, kaum jemand war verurteilt. Mein Weg war nicht demonstrativ, aber ich wollte meine Identität leben, wie alle anderen auch ihre Identität leben. Ohne meine Identitäten - und dazu gehört die jüdische - wäre ich ja kein lebendiger Mensch. Und es beunruhigt mich, es schmerzt mich im ganzen Herzen, dass wir jetzt darüber reden müssen. Dass wir abwägen zwischen Sicherheit und Freiheit.

Dem entnehme ich, dass Sie das aber auch Ihren Söhnen so sagen.

Ja, aber ich überlasse es ihnen. Sie sind 15 und 19 Jahre alt.

Die Angst um die Sicherheit teilen auch andere. Es gibt homosexuelle Paare, die wegziehen, es gibt Leute, die sich extravagant anziehen und deswegen verbal angegriffen werden - und ich rede von Berlin.

Ja, in Frankfurt gibt es das nicht.

Aber das ist doch alles, wofür Berlin steht. Dafür sind doch die meisten Menschen hergezogen. Und jetzt löst es sich auf, auch unter dem Einfluss der politischen Partei, die Sie bereits erwähnten.

Ja, Berlin. Ich kann weder den Hype noch die Frustration erklären, die diese Stadt erlebt hat und jetzt wiederum erlebt. Aber was hinter Ihrer Frage steht, ist eben Folge der aufgrund der sozialen Medien deutlich aggressiveren und auch intoleranteren Welt und Gesellschaft, in der seit Jahren nur noch monologisiert wird. Es gibt keine Streitkultur, keine Grautöne. Aber wenn Solidarität und Empathie sich zurückziehen, und das ist interessant, wie Sie es beschreiben, fängt es natürlich nicht bei den Juden an und hört dort auf. Das versuche ich in diesem Buch zu erklären. Wo Verrohung, Hass, Gewalt legitimiert ist, ich sage "pseudo"-legitimiert, und Menschen glauben, sie können sich austoben, sind die Grenzen der Zielgruppen sehr schnell aufgelöst. Die Gesellschaft bekommt eine Realität, die mit Humanismus, Aufklärung, Respekt immer weniger zu tun hat. Dort, wo aus dem Puzzle, das da heißt: "Die Würde ist unantastbar" auch nur ein Teil herausgenommen wird, wo gesagt wird: "Die Würde dieser Menschen ist antastbar", ist dieses ganze Mosaik nicht mehr stabil. Die Statik bricht ein. Das erleben wir gerade. Und die politischen und intellektuellen Eliten laufen dem Thema hinterher, weil sie vielleicht dann doch nicht solche Eliten und so intellektuell sind, wie sie sich selbst einreden.

Sie schreiben: "Es denken sehr viele aus der jüdischen Community darüber nach, Deutschland zu verlassen, ich auch." Aber wohin?

Diese Frage ist für mich schnell beantwortbar. Wenn Menschen wirklich flüchten müssen, dann denken sie nicht nach dem Wohin, sondern erst mal raus. Jede zweitbeste Lösung ist bereits eine Erleichterung. Das heißt, wenn wir heute darüber diskutieren, wo wir ja noch nicht müssen - das muss man festhalten -, wird diese Frage zu einer Luxusfrage. Die soll jeder dann für sich beantworten, wie er will. Mir ist wichtig, dass wir als jüdische Gemeinschaft gerade in Europa und erst recht in Deutschland, nie wieder so lange warten, bis wir müssen. Ich bin aber nicht hilflos. Ich bin nicht deprimiert. Ich bin auch nicht paralysiert. Ich bin immer bereit, und nicht nur in der Frage des Judentums, mich als Mensch in der Zeit, in der ich lebe, anzustrengen. Und das bedeutet denken, fühlen, lernen, lesen, neugierig sein, zweifeln. Um diese Welt nur ein wenig vor den affektgesteuerten Impulsen zu schützen. Wir Menschen sind nun einmal emotional und natürlich nie nur Vernunft. Gott Kant ist gescheitert, denn der Mensch ist nicht mal primär vernünftig. Aber dass wir mit der Vernunft ein wenig weiterkommen können, haben wir ja bereits gesehen. All das will ich mitgestalten und unter Umständen diese Entwicklungen, über die wir sprachen, zurückdrängen, um Zeit zu gewinnen, uns weiter zu zivilisieren.

Wir arbeiten also weiter täglich an der Heilung der Welt?

Aber ja! Das ist etwas, wo jeder Mensch jederzeit seinen Beitrag leisten kann. Der Satz "Was kann ein Einzelner schon tun", an den kann und konnte ich nie glauben. Weil meine Eltern gerettet wurden von Oskar Schindler. Hätte der an diesen Satz geglaubt und nichts getan, hätten Sie nicht mit mir sprechen können.

Mit Michel Friedman sprach Samira Lazarovic

Quelle: ntv.de

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