Wahl in Nordrhein-Westfalen Der schroffe Charme der Hannelore Kraft
02.05.2017, 12:25 Uhr
Wahlkampf liegt Hannelore Kraft: die Ministerpräsidentin im Gespräch mit Wählern auf dem roten Sofa in Bünde.
(Foto: NRW SPD)
Die Bilanz von Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen ist mäßig. Im Wahlkampf versucht die Ministerpräsidentin zu erklären, warum sie trotzdem die Richtige ist. Mitunter gelingt ihr das sogar.
Es riecht nach frischem Holz und Hannelore Kraft schwärmt. Vor ihr steht ein aus Ästen geflochtener Stuhl. Kraft unterhält sich mit einem Tischler und seinem Auszubildenden, einem Flüchtling. Für einen Moment scheint es, als wolle die SPD-Politikerin die Rollen tauschen. "Das ist das Tolle am Handwerk, man sieht sofort, was dabei herauskommt. In der Politik dauert das manchmal länger", sagt sie. Die Ministerpräsidentin ist zu Besuch am Ludwig-Steil-Hof, einer evangelischen Stiftung in Espelkamp im nordöstlichsten Zipfel Nordrhein-Westfalens. Es ist Wahlkampf, am 14. Mai wird ein neuer Landtag gewählt. Kraft sitzt seit 2010 in der Düsseldorfer Staatskanzlei und würde gern noch ein bisschen bleiben. Dafür muss sie erklären, warum es in ihrem Bundesland eigentlich gar nicht so schlecht ist und ihr die Menschen noch etwas Zeit geben sollen. Aber das ist gar nicht so einfach.
Nach sieben Jahren fällt Krafts Bilanz mäßig aus. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap wird die Arbeit von Rot-Grün bei den Themen Armutsbekämpfung, Innere Sicherheit, Bildung und Verkehr negativ bewertet. Die Zahl der Kriminalfälle ist seit 2010, als Kraft den CDU-Mann Jürgen Rüttgers ablöste, unverändert hoch. Die Kinderarmut ist gestiegen, trotz "Kein Kind zurücklassen", einem der großen Projekte der Landesregierung. Die Arbeitslosigkeit sank leicht, ist aber höher als in fast allen westdeutschen Bundesländern. Kraft versucht das kleinzureden. In Großstädten sei die Kriminalität immer größer und NRW habe viele große Städte, erwidert sie. Das Wachstum liege nur 0,1 Prozent unter dem bundesweiten Durchschnitt, 2010 seien es fast zwei Prozent gewesen. Ihr Fazit: "Die Menschen sind vielleicht nicht mit allem einverstanden, aber sie merken, dass ich das mit Herzblut mache." Man sei auf einem guten Weg.
Herzblut. So will Kraft die Wähler überzeugen - nicht mit Fakten, sondern mit dem diffusen Gefühl, dass sie sich doch wirklich Mühe gibt und auch als Ministerpräsidentin ganz normal geblieben ist. Die 55-Jährige will sich NRW nicht schlechtreden lassen, schon gar nicht das Ruhrgebiet, wo sie geboren ist. Als sie im Wahlkampfbus auf No-Go-Areas angesprochen wird, verdreht sie die Augen. So etwas gebe es nur in Asien oder Südamerika. Kraft möchte nur von "schwierigen Orten" sprechen. Sie erzählt von kriminellen Banden, Schrott-Immobilien und Schein-Arbeitsverträgen, von knapp 20.000 Osteuropäern allein in Duisburg. Man arbeite eng mit den Städten zusammen, habe die Zahl der Ordnungskräfte erhöht, Videoüberwachung eingeführt. "Das läuft." Alles im Griff, halb so wild also. Es ist nicht lange her, als manche Beobachter bei Kraft Amtsmüdigkeit bemerken wollten. Als Sinnbild galt diese Szene: Als sie im April 2016 in der Landespressekonferenz zu ihren Plänen bis zur Wahl befragt wurde, kam sie ins Grübeln und suchte minutenlang in ihren Unterlagen nach einem Zettel. Hatte sie überhaupt noch Pläne? Die Umfragen waren damals mies. Kraft war lange gesundheitlich angeschlagen, dann verstarb auch noch ihre Mutter. Ein schwieriges Jahr.
Kohlenpott-Pathos und Lokalpatriotismus
Warum nach sieben Jahren fünf weitere folgen sollen? Krafts Bilanz klingt so: "Wir haben eine Menge geschafft, aber es gibt auch noch eine Menge zu tun." Politik funktioniere nicht von heute auf morgen, die Schalter ließen sich schließlich nicht einfach umlegen. Es geht voran, aber langsam, so lautet das Motto. Ihre SPD inszeniert sich im Wahlkampf als NRW-Partei. Im ganzen Land hängen Plakate mit dem Slogan #NRWIR, ergänzt mit Schlagwörtern wie "Kollegen", "Nachbarn", "Rabauken". Nicht fehlen darf natürlich "Malocher". Kohlenpott-Pathos und Lokalpatriotismus ziehen in Nordrhein-Westfalen. Kraft und die SPD appellieren an das Zusammengehörigkeitsgefühl - auch, um sich als Gegenentwurf zur AfD zu positionieren.
Der Wahlkampf ist stark auf Kraft zugeschnitten, das Bad in der Menge ist eine ihrer großen Stärken. In einer Schule in Ostwestfalen trifft die Ministerpräsidentin auf Flüchtlinge, die 2016 nach Deutschland gekommen sind. "Hast du noch Verwandte dort?", "Wie ist der Kontakt?", fragt sie einen 17-jährigen Syrer. Einem Erzieher sagt sie: "Danke für Ihre Arbeit. Ich bin froh, dass Sie das machen." Wenn Kraft aus dem Wahlkampfbus steigt und SPD-Landtagskandidaten begrüßt, holt sie zur Umarmung aus und sagt: "Mein Libber. Wie isset?" Das Menscheln liegt der Diplom-Kauffrau und Tochter eines Straßenbahnfahrers. Kraft ist launisch und kann ziemlich borstig sein, sie ist aber ein Kumpeltyp. Es gelingt ihr, die Illusion aufrechtzuerhalten, sie sei die nette Frau von nebenan. Auch deshalb ist sie wesentlich populärer als ihr CDU-Herausforderer. Armin Laschet tut sich im Wahlkampf schwer, aber wäre er deshalb ein schlechterer Ministerpräsident? Mutmaßlich nicht.
Dabei sagt Kraft längst nicht immer das, was die Menschen hören wollen. Sie streitet gern. An einem Vormittag Ende April sitzt sie in der Fußgängerzone in Bünde auf einem roten Sofa. Die Landesmutter zum Anfassen. Natürlich darf, das ist der Sinn des Ganzen, gemeckert werden. Ein älterer Herr bezeichnet Kraft als Lügnerin und wirft der SPD vor, Stimmen zu kaufen. Die Ministerpräsidentin, die noch etwas mehr Zeit zum Regieren haben will, wird ungeduldig. "Jetzt mal Butter bei die Fische", sagt sie schroff. Im Gespräch mit dem Vertreter einer Bürgerinitiative, die den Bau eines Gewerbegebiets verhindern will, regt Kraft eine Bürgerversammlung an. Als ein Mann sich über die hohen Rundfunkgebühren beschwert, entgegnet Kraft schließlich: "Da habe ich eine andere Meinung. Tut mir leid." Es passiert häufiger, dass sie eine Diskussion so beendet. "Wünsch dir was is' nich", ist ein Satz, den die Sozialdemokratin gerne und oft sagt.
Löhrmann und Jäger: praktische Blitzableiter
In anderen Situationen delegiert Kraft Verantwortung einfach. Als eine junge Mutter klagt, dass es zu wenig Kita-Plätze gebe, zuckt sie mit den Schultern. Das Geld vom Land liege bereit, Städte und Kommunen würden nur nicht schnell genug bauen. Als der Geschäftsführer einer Firma in Herford kritisiert, dass in NRW nicht genügend Ingenieure ausgebildet würden, widerspricht sie und schiebt den Hochschulen die Schuld zu. Oft muss sie es gar nicht so offensichtlich machen. Kraft hat ihre Blitzableiter. Nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht und im Fall des in NRW registrierten Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri zog Innenminister Ralf Jäger den ganzen Ärger auf sich. Der Unmut über die Schulpolitik und das Thema Inklusion trifft nicht sie, sondern Grünen-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann.
Eigentlich könnte Kraft gelassen sein. Die Meinungsforscher sehen die SPD zwischen 35 und 40 Prozent, deutlich vor der CDU. Auch in Nordrhein-Westfalen profitierten die Sozialdemokraten von der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz. Dennoch sehen sie die Umfragen in Krafts Umfeld etwas zwiespältig. Man fürchtet, dass potenzielle Wähler zu Hause bleiben könnten. Warum wählen, wenn die Kraft eh gewinnt? Dabei ist völlig offen, wie es weitergeht. Kraft würde gern mit den Grünen weiterregieren, die Aussichten sind aber schlecht. Der Koalitionspartner schrumpfte in Umfragen auf 6 Prozent. Ein Dreierbündnis mit den Linken kommt für sie nicht infrage. Eine Ampel hat die FDP ausgeschlossen, ein sozialliberales Bündnis nicht. Aber die FDP ist für Kraft schwer einzuschätzen. Mit wem wird sie es in Düsseldorf zu tun haben, wenn Christian Lindner nach Berlin wechselt? Und eine Große Koalition? Wäre nicht gerade ein optimales Signal.
Erst Wahlkampf und Koalitionsverhandlungen in Düsseldorf, dann wieder von vorn. Denn im September ist schließlich Bundestagswahl. 2017 wird ein langes Jahr für Kraft, mit Urlaub dürfte es schwierig werden. Umso schöner, wenn ihr Herzblut mal gewürdigt wird. In Bünde setzt sich ein älterer Herr neben Kraft auf das Sofa. "So wie Sie Politik machen, finde ich gut, deshalb bin ich auch in die SPD eingetreten", sagt er. Kraft lächelt gerührt. Da hat sie keinen Einwand.
Quelle: ntv.de