70 Jahre und kein bisschen politikmüde Der verhinderte Kanzler
18.09.2012, 08:43 Uhr
Dozierend am Rednerpult des Bundestages: Wolfgang Schäuble.
(Foto: dpa)
Kohls Allzweckwaffe, ein Mann für das Detail, politisches Schwergewicht: Es gibt viele Bezeichnungen für Wolfgang Schäuble. Als Bundesfinanzminister ist auch derzeit einer der wichtigsten deutschen Politiker. Der Weg nach ganz oben bleibt Schäuble, der seinen 70. Geburtstag feiert, allerdings verwehrt. Und das hat auch mit Kohl zu tun.
Der Bundestag ist gut besetzt, denn es ist Haushaltsdebatte. Am ersten Tag ist der Bundesfinanzminister die Hauptperson, er muss den Abgeordneten . Zugleich steht er in der Kritik. Warum müsse Deutschland sich neu verschulden, wenn die Steuereinnahmen nur so sprudelten, kommt es aus den Reihen der Opposition. Wolfgang Schäuble wirkt dennoch relativ entspannt, denn kurz zuvor ist der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler vor dem Bundesverfassungsgericht mit seinem . Der politische Fuchs weiß natürlich, dass damit die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Karlsruhe . Mit Auflagen zwar, aber das tangiert den Herrn der Kassen nicht sonderlich.

Verbindlich im Ton, hart in der Sache: Schäuble mit Ex-SPD-Chef Franz Müntefering und dem möglichen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.
(Foto: dpa)
Allerdings ist auch an einem Tag wie diesem Schäubles Geduld nicht unbegrenzt. Während er redet, gibt es einen Zwischenruf, der den "Minischter" nervt. "Haben Sie sich schon einmal mit Steuerrecht beschäftigt? Schauen Sie doch mal nach, was drin steht", keilt er zurück. Wenn Blicke töten könnten, müsste der Zwischenrufer augenblicklich umfallen. Da ist er wieder der Schäuble, der Kämpfer, der Ungeduldige, der nichts mehr hasst als - aus seiner Sicht - unqualifizierte Bemerkungen ohne jegliches fachliches Fundament.
Kaum ein anderer Politiker hat die Entwicklung Deutschlands in den letzten Jahrzehnten so maßgeblich beeinflusst wie Wolfgang Schäuble. Seit 1972 - er war damals 30 Jahre alt - sitzt er im Bundestag, damals war gerade das siebte Nachkriegsparlament gewählt und die sozial-liberale Koalition von Bundeskanzler Willy Brandt bestätigt worden. 53,2 Prozent bekommt der junge, ehrgeizige Mann in seinem Wahlkreis Offenburg - also direkt gewählt, wichtig für die Stellung innerhalb der eigenen Reihen. Schäuble wird Mitglied einer Unionsfraktion, in der trotz geringer Verluste Katzenjammer herrscht. Die Tage von Rainer Barzel als Vorsitzender der CDU und der Bundestagsfraktion sind gezählt - 1973 gibt er beide Ämter ab. Der Pfälzer erklimmt im zweiten Anlauf den CDU-Chefsessel. Das bedeutet für das politische Leben des Badeners Schäuble eine zweite gravierende Änderung binnen eines Jahres.
Die harten Bänke der Opposition und die etwas weicheren der Regierung kennt Wolfgang Schäuble, der am 18. September seinen 70. Geburtstag feiert. Seine Karriere kennt zunächst nur eine Richtung, die nach oben. Nach den Niederungen der Ausschussarbeit - Schäuble erweist sich mit seiner Arbeit in den Gremien für Sport und Finanzen und als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats bereits in den 1970er Jahren als thematisch äußerst vielseitig - kommt Kohl nicht mehr an ihm vorbei: Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramts sowie Bundesinnenminister - Schäuble wird im System Kohl der wichtigste Mann und zu einer Art Allzweckwaffe. Die Deutschlandpolitik ist das Feld, auf dem sich Schäuble tummelt. Seine enge Nähe zu Kohl soll später jedoch dafür sorgen, dass seine Karriere eine unvollendete bleibt.
Einigungsvertrag und Attentat
Ohne Schäuble hätte Kohls Kanzlerschaft nicht 16 Jahre lang gedauert. Seine Fraktionstätigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Geschäftsführerfunktion. Er bügelt oft Scharten des mitunter überforderten Fraktionschefs Alfred Dregger aus, wirkt nach innen in die Fraktion. Er macht sich bei den CDU- und CSU-Parlamentariern nicht nur Freunde. Dregger mache die Reisen und Schäuble die Arbeit, beschreibt Kohl einmal sinngemäß die Arbeitsteilung, um den zierlichen Mann später noch enger an sich zu binden. Als Kanzleramtschef bereitet Schäuble den Besuch von 1987 in der Bundesrepublik vor. Unzählige Verhandlungen mit Honecker und anderen Mächtigen des zweiten deutschen Staates in Bonn und Ost-Berlin führt er.
Und Schäuble bleibt im Brennpunkt des politischen Geschehens. Als , ist er Innenminister. Ein Einigungsvertrag muss her. Wer verhandelt? Natürlich Schäuble. In der Zeit, als ein Tag eigentlich mehr als 24 Stunden haben muss, als ein gravierender wirtschaftlicher und sozialer Umbruch in Ostdeutschland stattfindet, feilen Schäuble und seine Mitarbeiter mit DDR-Staatssekretär Günther Krause am Papier, das Ende August unterzeichnet wird. Kohl findet als Kanzler der Einheit Eingang in die Geschichtsbücher.
1990 ist für den größten Teil der Deutschen ein Jahr der Freude - für Schäuble ist es auch ein Schicksalsjahr. Das Attentat am 12. Oktober verändert sein Leben maßgeblich. Schäuble überlebt, ist aber seitdem an den Rollstuhl gefesselt. Kohl bangt um seinen Mann für das Detail, besucht ihn im Krankenhaus, vergießt Tränen. Kaum jemand glaubt in den Tagen, in denen es für Schäuble um Leben und Tod geht, dass er weiter an vorderster Front politisch tätig sein könnte. Doch Kohl hält weiter an ihm fest - auch aus eigennützigen Gründen.
Von Kohl instrumentalisiert
Seit geraumer Zeit wird Schäuble als etwaiger Kohl-Nachfolger angesehen. Ohne Zweifel kann er Kanzler, wenn man ihn nur lässt. Es tut Schäuble weh, dass sein Gefesseltsein an den Rollstuhl, zu unüberlegten und verletzenden Äußerungen führt. "Ein Behinderter kann nicht Kanzler werden", sagt der spätere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Das macht CSU-Chef Theo Waigel, der in dieser Zeit nicht gerade ein großer Anhänger Schäubles ist, wütend. Der Behinderte macht dennoch große Politik. So bewirkt er in der Hauptstadtfrage einen Stimmungsumschwung. Am 20. Juni 1991 hält er die Rede seines Lebens zugunsten Berlins. Anders als Kohl gelingt es Schäuble, unentschlossene Abgeordnete umzustimmen. Berlin wird Regierungssitz, nach Ansicht von Schäuble ist dies eine dringende Notwendigkeit, um die Einheit Deutschlands zu vollenden. Ohne Schäuble wäre der Berlin-Karren wohl an die Wand gefahren.
Schäuble als Redner: Spricht er ganz leise, ist es still im Plenum. Als Unionsfraktionschef gibt er auch den Gnadenlosen, der die Opposition regelrecht abkanzelt - dabei wird es sehr laut. Schäuble hat seine Fraktion im Griff und sorgt damit allerdings auch dafür, dass die Kanzlerdämmerung unerträglich lange dauert. Schäuble ist ungeduldig, er erkennt den immer größer werdenden Reformstau. "Man kann nicht regieren, indem man über alles Konsenssoße gießt", gibt er sich verbittert. Andererseits scheut der Fraktionsvorsitzende die finale Auseinandersetzung, wohl wissend, dass ihn die übermächtigen Kohlschen Bataillone wegfegen würden. Schäuble wird von Kohl instrumentalisiert, als Nachfolger ausgerufen. Ein gemeinsames Bild wird 1997 geschossen. Der Kanzler, den die Mehrheit der Deutschen regelrecht satt hat, tritt zur Bundestagswahl 1998 dennoch wieder an - und verliert.
CDU-Spendensumpf
Erst diese Niederlage macht Schäuble zum CDU-Vorsitzenden. Ein Scherbenhaufen muss zusammengekehrt werden. Nur ist dieser für Schäuble zu groß. Die Spendenaffäre macht auch vor ihm nicht halt. Ein "dämlicher Fehler" (Schäuble) im Umgang mit der 100.000-Mark-Spende des Waffenhändlers Karlheinz Schreiber sorgt dafür, dass er im Spendenstrudel mit untergeht. So darf Schäuble nur etwas mehr als ein Jahr die CDU führen, denn sein langjähriger Förderer Kohl sorgt Anfang 2000 für seinen politischen Tiefpunkt. Er weigert sich, die Namen der Spender zu nennen. Schäuble wird damit indirekt zum Rücktritt gezwungen. Ohnmächtig muss er mit ansehen, wie seine ehrgeizige Generalsekretärin Angela Merkel die Macht in der CDU übernimmt. Ihre Forderung in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 22. Dezember 1999, dass sich die Partei von Kohl abnabeln müsse, desavouiert Schäuble als Vertreter des Systems Kohl. Der Weg zum Kanzleramt ist ihm für immer verbaut. Schäuble bricht mit Kohl.

Machtwechsel im März 2000: Die in der Spendenaffäre unbelastete Angela Merkel übernimmt von Schäuble den CDU-Vorsitz.
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Es unterscheidet Schäuble von anderen Politikern, dass seine politische Schwächeperiode nur zeitlich begrenzt ist. Und seine Wiederauferstehung ist auch alles andere als geradlinig. Zwei Mal ist er für hohe politische Ämter im Gespräch: als CDU-Bürgermeisterkandidat in Berlin und als Bundespräsident. Beide Male muss Schäuble zurückstecken. In Berlin entscheidet sich die dortige Kiez-Union für das Fliegengewicht Frank Steffel. Der Präsidentenkandidat wird 2004 wird in der Wohnung von FDP-Chef Guido Westerwelle ausgekungelt. Der den Bundesbürgern ziemlich unbekannte Horst Köhler zieht statt Schäuble ins Berliner Schloss Bellevue ein. Angela Merkel wird diesen Entschluss später im Stillen bereut haben.
Schäubles Verhältnis zu ihr ist nicht herzlich, aber von Respekt geprägt. Andererseits kann und will Merkel auf Schäuble nicht verzichten. In der Großen Koalition leitet er wieder das Innenressort. In der schwarz-gelben Regierung ist er seit 2009 Finanzminister. Ein mörderisches Amt in dieser schwierigen Zeit. "Ich vertraue Wolfgang Schäuble", so begründet die Kanzlerin ihren Schritt kurz und knapp. Auch unter ihr ist Schäuble wieder eine wichtige Waffe.
Und Schäuble bohrt dicke Bretter. Die europäische Schuldenkrise fordert seine ganze Kraft. Den Euro, wegen dessen Einführung Kohl angeblich weiter im Kanzleramt bleiben wollte, muss Schäuble nun mit retten. Gesundheitliche Probleme - eine Operationswunde will einfach nicht verheilen - werden ignoriert und zwingen ihn später doch zum Pausieren. Das am 4. November 2010 vor versammelter Journalistenschar verdeutlicht, wie schlecht es Wolfgang Schäuble gehen muss. Ein endgültiger Ausstieg aus der Politik ist in diesem für Schäuble verflixten Jahr 2010 im Bereich des Möglichen. Aber der Pflichtbewusste ist zäh, fängt sich wieder und stürzt sich ins politische Getümmel.
Überhaupt nicht pflegeleicht
Schäuble ist ein von der Politik Besessener mit vielen Gesichtern. Er ist charmant, engagiert, durchsetzungsstark, schroff, sarkastisch - einige sprechen ihm auch ein gewisses Maß an Gerissenheit zu. Eines ist er auf jeden Fall nicht: pflegeleicht. . "Diagnosen kann jeder stellen. Wo bleibt die Therapie?", sagte der Finanzminister einmal in einem anderen Zusammenhang. Aber dieses Zitat ist hinsichtlich der herrschenden Schuldenkrisen-Kakophonie höchst aktuell.
Am 26. September wird Schäuble von der Unionsfraktion gefeiert. Einer wird fehlen: Helmut Kohl. Das Verhältnis der beiden ist eisig. De facto haben sie keines mehr. . Dabei geht es ihm mehr um die Partei und die damalige Koalition. Nach Lage der Dinge ist eine Versöhnung nicht in Sicht. Zu tief klaffen die Wunden.
Schenkt man seinen Äußerungen Glauben, dann ist das Kapitel Kohl für Schäuble abgeschlossen. Eine formelle Versöhnung würde doch nur eine Debatte darüber entfachen, "wer wem verzeiht", sagt er "Stern"-Autor Hans Peter Schütz, der kürzlich eine veröffentlicht hat. Mit Helmut Kohl hätte ein solcher Schritt "keinen Sinn mehr". Schäuble benötigt Kohl auch nicht mehr, er ist auch ohne ihn bedeutend genug.
Wird die Droge Politik Wolfgang Schäuble weiter beherrschen? Es sieht ganz danach aus. Ein Rentnerdasein ist wohl noch nichts für den Mann im Rollstuhl. Ob Minister, oder nicht: Schäuble ist sich auch für die Abgeordnetenbank nicht zu schade.
Quelle: ntv.de