Politik

Osteuropa-Experte zu Wagner-Deal "Die Lage in Belarus könnte schnell explodieren"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos | Feedback senden
Bejubelt ziehen sich Wagner-Söldner am Samstag aus dem russischen Rostow zurück. Bringt Jewgeni Prigoschin seine Kämpfer nun nach Belarus mit?

Bejubelt ziehen sich Wagner-Söldner am Samstag aus dem russischen Rostow zurück. Bringt Jewgeni Prigoschin seine Kämpfer nun nach Belarus mit?

(Foto: REUTERS)

Als seine Kämpfer bereits wenige Hundert Kilometer von Moskau entfernt sind, dreht Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin plötzlich um und beendet seinen Aufstand gegen den Kreml. Ein mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko angeblich ausgehandelter Deal soll die Wende gebracht haben. Demnach soll sich der Wagner-Chef nun nach Belarus begeben. Doch gibt es überhaupt ein solches Abkommen? Der Historiker Alexander Friedman ist sich da nicht sicher. Warum und was ein geplatzter Besuch eines afrikanischen Diktators damit zu tun hat, darüber spricht der Osteuropa-Experte im ntv.de-Interview.

ntv.de: Nach dem Aufstand der Wagner-Gruppe hieß es vom Kreml, Jewgeni Prigoschin würde nach Belarus "gehen". Was heißt das genau? Bekommt er dort eine Art Asyl?

Alexander Friedman: Momentan kann man dazu nicht viel sagen. In der Tat gab es diese Formulierung seitens des Kremls, sonst aber keine Einzelheiten. Eine zentrale Frage bleibt, ob Prigoschin - wenn er überhaupt nach Belarus geht - alleine kommt oder mit seiner Truppe. Es gibt Vermutungen, dass er mit seinen Leibwächtern, vielleicht mit 100 Leuten nach Belarus kommt - jedenfalls nicht allein. Es gab auch Spekulationen, dass die ganze Wagner-Truppe nun an die belarussisch-ukrainische Grenze verlegt wird, um von dort aus noch einmal Kiew anzugreifen. Momentan haben wir es mit diversen Spekulationen und Verschwörungstheorien zu tun, etwas Konkreteres gibt es nicht.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Lukaschenko ist abgetaucht, genauso wie Putin. Man hat ihn nicht einmal am Samstag, während oder nach dem Aufstand, gesehen. Er wird jetzt überall, auch in der internationalen Presse, quasi als Held gefeiert, aber von ihm selbst gibt es bisher ja keine Kommentare. Das heißt, zu welcher Lösung man gekommen ist und ob ein Deal, wie es behauptet wurde, überhaupt ausgehandelt wurde, darüber können wir nur spekulieren.

Nehmen wir an, es wurde wirklich ein Deal ausgehandelt. Was glauben Sie, könnten die Konditionen einer solchen Vereinbarung sein?

Möglicherweise wurde Prigoschin versprochen, dass seine Forderungen erfüllt werden, nämlich dass der Generalstabschef Waleri Gerassimow und der Verteidigungsminister Sergei Schoigu abgesetzt werden, und Prigoschin unversehrt abziehen kann. Aber das sind ja nur Vermutungen. Nicht einmal eine Tatsache, die angeblich vorgestern feststand, wurde bis jetzt bestätigt. Ich meine die angeblich fallengelassenen Ermittlungen gegen den Wagner-Chef. Die Geschichte ist noch überhaupt nicht abgeschlossen. Am Samstag ging es nur darum, irgendwie zu deeskalieren, zu entschärfen, damit die ganze Sache nicht ausartet und den Russen nicht an der Front schadet oder den Ruf der Russischen Föderation komplett ruiniert. Hinter den Kulissen soll nun weiterverhandelt werden.

Gibt es Hinweise, die dafür sprechen?

Indirekt spricht dafür zum Beispiel die Tatsache, dass der Staatsbesuch des Präsidenten von Äquatorialguinea - er hätte heute nach Minsk und anschließend nach Moskau kommen sollen - abgesagt worden ist. Dass einem wichtigen Partner, der in seinem Land übrigens seit 1979 an der Macht und somit der dienstälteste Diktator der Welt ist, einfach gesagt wird: "Pass auf, es klappt nicht, wir haben aktuell andere Sorgen", das spricht dafür, dass hinter den Kulissen weiterhin ein Deal mit Prigoschin ausgehandelt wird. Also die Modalitäten stehen möglicherweise noch nicht fest.

Was sonst dafür spricht? Schoigu noch Gerassimow, um die es bei dem Aufstand ja in erster Linie ging, haben sich immer noch nicht dazu geäußert. Am Wochenende gab es Gerüchte, Schoigu werde abgesetzt. Heute wurde ein Video veröffentlicht, in dem er russische Truppen inspiziert, zum Wagner-Aufstand gab es vom Verteidigungsminister aber immer noch keine Stellungnahme.

Was bedeutet der Aufstand für Lukaschenko? Profitiert er davon?

Lukaschenko ist momentan wohl der größte Gewinner dieser Geschichte. Er sieht sich nicht als provinzieller Politiker aus einem kleinen osteuropäischen Land. Seine außenpolitischen Ambitionen sind immens. Er will wahrgenommen werden, er will beachtet werden. Er will nicht als eine russische Marionette, sondern als ein wichtiger Politiker betrachtet werden. Und jetzt bekommt er das alles. Er steht im Mittelpunkt, er wird auch im Westen als starker Mann präsentiert. Es ist einfach traumhaft für ihn.

Sollte Prigoschin tatsächlich nach Belarus kommen, könnte Lukaschenko auch in einer weiteren Hinsicht profitieren. Denn der Wagner-Chef ist für seine schmutzigen, aber sehr profitablen Geschäfte in Afrika bekannt. Wenn Lukaschenko mit Prigoschin zusammenarbeitet, eröffnen sich ihm neue Geschäftsperspektiven und Möglichkeiten. Für ihn könnte es eine tolle Sache werden.

Und was heißt es für die Menschen in Belarus, wenn Prigoschin in ihr Land kommt?

Es kann zur weiteren Verschlechterung der belarussisch-westlichen Beziehungen kommen, sollte sich Prigoschin in Belarus niederlassen. Das kann zu weiteren Sanktionen und zu weiterer Abschottung führen. Für die Menschen in Belarus ist es sicherlich sehr schlecht. Wenn eine militärische Gruppe mit einem solch miserablen Ruf wie Wagner im Land ist, verspricht es der belarussischen Gesellschaft nichts Gutes.

Wenn Prigoschin tatsächlich kommt, rückt also die Hoffnung auf einen Machtwechsel in Belarus in weite Ferne?

Ich sehe das ambivalent. Was hat der Prigoschin-Aufstand gezeigt? Dass das Putin-System tatsächlich sehr schwach ist und durchaus zusammenbrechen kann. Und ein Zusammenbruch der Putin-Diktatur kann neue Chancen und Möglichkeiten für die Demokratisierung von Belarus bedeuten. Allerdings, wenn es jetzt zur Radikalisierung der Diktatur in Russland kommt, kann man auch mit einer weiteren Verschärfung von Repressionen in Belarus rechnen.

Die Hoffnung der demokratischen Bewegung in Belarus beruht auf dem Sieg der Ukraine. Die Belarussen sind die größte Gruppe unter Freiwilligen, die auf der ukrainischen Seite kämpfen. Und diese Freiwilligen - das Kastus-Kalinouski-Regiment - haben ja schon ganz klar und deutlich erklärt, dass ihre Mission nicht in der Ukraine enden wird. Zunächst wollen sie einen Beitrag zum ukrainischen Sieg leisten und dann weiter nach Belarus ziehen, um auf dem militärischen Wege die Diktatur zu stürzen.

Und da ist es für Lukaschenko von Vorteil, wenn Prigoschin und seine Kämpfer im Land sind. Sie könnten ja sein Regime schützen.

Prigoschin mit seiner Truppe kann ein Vorteil, aber auch ein Nachteil für Lukaschenko werden. Beginnen wir beim Nachteil: Die Wagner-Söldner sind wahrscheinlich das Beste, was die russische Armee militärisch momentan zu bieten hat. Die wenigen russischen Erfolge in der Ukraine verbindet man mit ihnen. Wenn sie also tatsächlich nach Belarus kommen, gewinnen sie dort die militärische Oberhand: Sie sind wesentlich stärker als die belarussische Armee. Und sie haben auch gezeigt, dass sie durchaus ihre eigene Agenda verfolgen, sogar gegen Putin rebelliert haben. Wenn ihnen in Belarus etwas nicht passen sollte, könnte die Lage also ziemlich schnell explodieren. Und Lukaschenko versteht das. Lukaschenko hat lange Zeit penibel dafür gesorgt, dass in Belarus keine Machtzentren entstehen, die ihn bedrohen können. Und Prigoschin mit seiner Truppe ist nunmal ein solches Machtzentrum.

Auf der anderen Seite, wenn Prigoschin ihm gegenüber loyal bleibt, kann Lukashenko dabei nur punkten. Dann ist es eine durchaus starke Kraft, um jegliche Versuche, ihn zu stürzen, abzuwehren. Aber ich frage mich, ob Lukaschenko in der Tat davon ausgehen kann, dass Prigoschin ihm stets loyal bliebt. Ich würde sagen, eher nein. Und so, wie ich Lukaschenko einschätze, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass er die Wagner-Truppe freiwillig nach Belarus holen würde.

Das heißt also, dass dieser Deal, demzufolge Prigoschin nach Belarus geht, nicht von Lukaschenko stammt, sondern vom Kreml?

Das würde ich nicht ausschließen. Ob Lukaschenko sich selbst ins Spiel gebracht hat oder ob er gebeten wurde, zu verhandeln, ist aus meiner Sicht zweitrangig. Was viel wichtiger ist, dass das letzte Wort sicherlich das von Putin war. Man muss sagen, dass Belarus von Russland quasi als Spielball verwendet wird, um russische politische Probleme zu lösen. Man nutzt das belarussische Staatsgebiet, um in die Ukraine einzumarschieren. Dann wird die belarussische Armee quasi ausgebeutet, weil sie ihre Munition an die Russen abgeben muss. Dann wird verkündet, dass in Belarus russische Atomwaffen stationiert werden. Und nun kommt auch noch die Geschichte mit Prigoschin hinzu. Das heißt, ob Lukaschenko selbstständig agiert oder ob er bloß von Russland benutzt wird, um russische Probleme zu lösen, das ist eine offene Frage. Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.

Es wäre falsch, Lukaschenko als eine kleine, unbedeutende russische Marionette darzustellen. So klein und unbedeutend ist er nicht. Aber es wäre auch genauso falsch zu meinen, dass er da selbstständig agiert. Dann würde man quasi das Bild der russischen Propaganda übernehmen und dieses Bild ist nicht zuletzt dazu da, um uns von den wichtigsten Sachen abzulenken, die nun klar zu Tage treten - nämlich von der Schwäche des russischen Systems. Eines Systems, das, wie wir am Samstag gesehen haben, wohl tatsächlich ziemlich schnell zusammenbrechen kann.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen