
Angela Merkel hat Schwierigkeiten, ihren Corona-Kurs durchzusetzen.
(Foto: REUTERS)
Ruck-Zuck durchregieren konnte die Exekutive bei der ersten Welle. Die Opposition war zahm, die Länder zogen an einem Strang, die Bevölkerung verängstigt und willens, Entbehrungen hinzunehmen. Das ist vorbei.
Es sei die Stunde der Exekutive, hieß es im Frühling beim Ausbruch der Corona-Pandemie. Eilig und reibungslos winkten Bundestag und Bundesrat acht Gesetze durch, die den Auswirkungen der Seuche die Wucht beim Aufprall nehmen sollten und der Politik Werkzeuge zur Verfügung stellte, um sie zu bekämpfen. Es waren bemerkenswerte Szenen, als selbst die erbittertsten parlamentarischen Gegner der Groko die Regierung lobten, die Gesetze unterstützten oder sie zumindest nicht blockierten. Vielleicht gehört dieser Zusammenhalt, das Vorschussvertrauen für die Regierung, zu den Gründen für den bisher vergleichsweise milden Verlauf der Pandemie hierzulande. In der ersten Corona-Welle konnte sich die Exekutive darauf verlassen, dass die Opposition die Regierung unterstützt, Bund und Länder an einem Strang ziehen. Doch das ist nun anders.
Während die Regierung die Stunde der Exekutive gerne noch ein wenig verlängern würde, kommt inzwischen erheblicher Gegenwind - aus der Opposition, aus den Ländern, von Ökonomen und Ärzteverbänden, ja, sogar aus der Koalition selbst. Noch nie seit dem Ausbruch der Pandemie stand der Kurs der Regierung so heftig in der Kritik.
Aktuell möchte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Sonderrechte, die seinem Ministerium im Frühjahr eingeräumt wurden, dauerhaft behalten. Eigentlich würden die enden, wenn der Bundestag ein Ende der "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" beschließt - wonach es derzeit nicht aussieht, spätestens jedoch Ende März 2021. In einem Gesetzentwurf aus Spahns Ministerium, aus dem die "Süddeutsche Zeitung" zitiert, heißt es nun jedoch, dass die bisherigen Regelungen "unter der Voraussetzung, dass dies zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist, verstetigt" werden sollen. Aus zeitlich befristeten Sonderregeln soll also eine Dauerlösung werden. Und diese Befugnisse haben es in sich. Demnach könnte das Gesundheitsministerium etwa Bahn-, Bus-, Flug- und Fährunternehmen verbieten, Menschen aus Risikogebieten zu transportieren oder sie verpflichten kranke Passagiere oder solche, bei denen es den Verdacht einer Infektion gibt, den Behörden zu melden.
"Dann hat die Demokratie einen dauerhaften Schaden"
Die Oppositionsparteien haben inzwischen wieder in ihre parlamentarische Rolle zurückgefunden und kritisieren die Regierung. Der Koalitionspartner hielt sich bisher zurück. Doch offenbar bringt Spahns Idee das Fass zum Überlaufen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, sagte dem "Spiegel", dass die Corona-Maßnahmen transparent und nachvollziehbar sein müssten, um von der Bevölkerung akzeptiert zu werden. "Das war in den letzten Tagen nicht immer gegeben." Schneider wird in dem Bericht mit dem Begriff "Verordnungsregime" zitiert und er kündigt an, "Spielräume für die Exekutive wieder stärker (zu) beschränken". Bemerkenswert ist auch die Reaktion von Spahns Parteikollegen, dem Unionsfraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus. Er sagt, dass der Bundestag nach Monaten der Notverordnungen bei den Corona-Entscheidungen wieder mehr mitreden wolle.
Auch andere Parlamentarier kritisieren den Umgang der Regierung mit den Sonderbefugnissen, die der Bundestag ihr gegeben hat, mit deutlichen Worten. Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident und laut Verfassung zweiter Mann im Staat nach dem Bundespräsidenten und noch vor Regierungschefin Merkel, schrieb in einem Brief an die Vorsitzenden der Fraktionen, "dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative". Darin ermahnt er: "Je intensiver und breiter wirkend der Grundrechtseingriff ist, desto höher muss die parlamentsgesetzliche Regelungsdichte sein." Auch Schäubles Stellvertreter im Präsidium des deutschen Parlaments finden deutliche Worte. "Da ist irgendwas in eine Schieflage geraten", sagte die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Hinblick auf die demokratische Kontrolle. FDP-Bundestagsvize Wolfgang Kubicki warnte: "Wenn wir als Parlament unsere Aufgabe jetzt nicht wahrnehmen, dann hat die Demokratie einen dauerhaften Schaden."
Es ist zwar derzeit nicht erkennbar, dass die Exekutive ihre Entscheidungen der Kontrolle des Parlaments entziehen will. Alle bisher verabschiedeten Gesetze wurden im Bundestag besprochen und abgestimmt. Auch zeigte sich Spahn angesichts der Kritik an seinen Plänen offen für Debatte. "Es geht um die größten Freiheitseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik, es geht um Zumutungen für den Einzelnen und für die Gesellschaft", sagt er im ZDF. Darüber müsse natürlich auch diskutiert werden - "meinetwegen auch gerne noch häufiger". Doch eines zeigt der massive Gegenwind ganz deutlich: Die Zeit des Abnickens von Corona-Maßnahmen ist vorbei. Und das gilt nicht nur für das Verhältnis des obersten Gesundheitspolitikers zur Opposition.
Auch die Kanzlerin bekommt zunehmend Probleme, ihren Kurs zu halten. Die Nachrichtenagentur Reuters will aus Regierungskreisen erfahren haben, man sei sich darüber bewusst, dass Angela Merkel mit ihren Appellen weniger deutlich durchdringe. Sie befindet sich in einem schwierigen Spannungsfeld. Zum einen hat sie bewiesen, dass sie der Stimme der Wissenschaft Gehör schenkt. Und Virologen wie Christian Drosten warnen derzeit eindringlich davor, dass Deutschland seinen Vorsprung gegenüber anderen europäischen Staaten verspiele. Simulationsmodelle wie etwa von Wissenschaftlern der Universität des Saarlandes zeigen, dass die von der Kanzlerin vorgerechneten 19.200 Neuinfektionen pro Tag nicht erst an Weihnachten, sondern bei der derzeitigen Entwicklung schon in zehn Tagen erreicht sein könnten.
Die Angst ist geringer als im Frühjahr
Eine aus ihrer Sicht adäquate Antwort auf dieses Infektionsgeschehen ist aber aufgrund der politischen Widerstände - das ist der andere Pol in dem Spannungsfeld - nicht mehr so einfach zu geben. Durchregieren, schnell Gesetze erlassen, Ruck-Zuck die Verbreitung eindämmen wie im Frühjahr, das funktioniert in diesem politischen Klima nicht mehr. Und das liegt nicht nur am Gegenwind aus dem Bundestag.
Auch das Verhältnis von Bund und Ländern ist ein grundsätzlich anderes als während der ersten Welle. Damals betonten Kanzlerin und 16 Ministerpräsidenten, dass Föderalismus nicht Schwäche, sondern Stärke sei. In Nachrichtensendungen weltweit wurde das hiesige System von Bund und Ländern erklärt und als Grund für das gute Abschneiden Deutschlands in der Pandemie genannt. Das war einmal. Spätestens nach dem letzten Treffen vergangenen Woche ist klar, dass das Verhältnis der Länderchefs untereinander, unabhängig von Parteizugehörigkeit, zerrüttet ist. Jeder und jede regelt es so, wie es für das eigene Bundesland am besten erscheint. Infektionsschutz ist Ländersache und Merkel bleibt außen vor und kann auch hier ihren Kurs nicht durchdrücken.
Zudem mehren sich Stimmen, die für einen gelasseneren Umgang mit Seuche plädieren. Neben dem Bonner Virologen Hendrik Streeck, der sich schon länger für einen Paradigmenwechsel ausspricht, waren das in jüngster Vergangenheit etwa der Präsident der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, der vor einer Dramatisierung der Lage warnte. Auch der Chef der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt warnte vor Panikmache. "Ich will keine Entwarnung oder fälschlich übertriebene Gelassenheit verbreiten, aber ich finde, man kann den Menschen nicht in einer Tour Angst machen", sagte Reinhardt. Ein Teil der Bevölkerung fange dann an, diese Warnungen nicht mehr ernst zu nehmen.
Das ist eine Entwicklung, die von einem anderen Unterschied der zweiten von der ersten Welle begünstigt werden könnte - und der ist nicht politischer Natur. Die allgemeine Angst vor der Seuche ist geringer, da die Zahl schwerer und tödlicher Verläufe deutlich unter dem Niveau vom Frühjahr bleibt. Das könnte sich angesichts der explodierenden Infektionszahlen zwar noch ändern. Doch die sich verändernde Drohkulisse hat Auswirkungen auf die Wirkung politischer Botschaften der Exekutive.
Quelle: ntv.de