Offensive nach Kampf um Bachmut? "Die Ukrainer müssten durch eigene Minenfelder"
20.03.2023, 15:39 Uhr
Ein ukrainischer Fallschirmjäger bereitet an der Bachmut-Front eine Panzerhaubitze für den Abschuss vor.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Seit Monaten verteidigt die Ukraine die Stadt Bachmut gegen die Wagner-Söldner, obwohl den ukrainischen Soldaten die Einkesselung droht. Das hängt höchstwahrscheinlich mit geplanten Offensivoperationen zusammen, die besonders kompliziert und riskant werden dürften.
Bachmut ist längst zum Symbol des Blutvergießens im Ukraine-Krieg geworden. Seit mehreren Monaten versuchen die russischen Angreifer die einstige 70.000-Einwohner-Stadt im Osten der Ukraine einzunehmen. Unzählige Soldaten auf beiden Seiten sind bei der Schlacht um Bachmut gefallen, vor allem die Russen haben enorme Verluste zu beklagen.
Ihrem Ziel, die Stadt einzunehmen, kommen die Wagner-Söldner im Auftrag Russlands aber in kleinen Schritten näher. "Wir können erkennen, dass es die Russen geschafft haben, die Stadt zur Hälfte in Besitz zu nehmen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Russen im Norden und Süden weiter vorgerückt sind, quasi hinter Bachmut", hat Markus Reisner, Oberst vom Österreichischen Bundesheer, im ntv-Interview gesagt. Durch den Vormarsch ins Landesinnere werde es "immer schwieriger für die Ukraine, eine Einkesselung zu verhindern", so der Experte.
Die Lage für die Ukrainer in Bachmut hat sich zuletzt auch deshalb weiter verschärft, weil es durch die russische Belagerung und den Dauerbeschuss immer schwieriger wird, Nachschub in die Stadt zu bekommen. Die Russen haben die Donbass-Stadt vom Norden, Osten und vom Süden aus umschlossen, nur über eine Straße aus dem Westen gelangt noch Material zu den ukrainischen Verteidigern. In den umliegenden Dörfern verhindern ukrainische Elitetruppen derzeit noch eine komplette Einkesselung.
"Ausgangslage wie bei Mariupol"
In Bachmut selbst gibt es längst keine großen Truppenbewegungen der Ukrainer mehr, weil sie von drei Seiten aus von den Russen umzingelt werden. Für Beobachter wie Oberst Reisner ist es deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis Bachmut den Russen in die Hände fällt.
Auch Militärexperte Ralph Thiele geht davon aus, dass die Stadt von den Wagner-Söldnern schon bald komplett eingenommen wird. Bachmut bis aufs Äußerste zu verteidigen, so wie Mariupol im ersten Kriegsjahr - hält der Ex-Oberst der Bundeswehr für unklug. "Die Ausgangslage ist ähnlich wie bei Mariupol. In den Berichten wird sich auf russische Soldaten und deren Truppen fokussiert, die sterben. Aber es ist natürlich auch grauenvoll für die Ukrainer, die häufig auch schlecht ausgerüstet und schlecht ausgebildet sind und ebenfalls in großen Mengen sterben", sagt Thiele im ntv-Interview. "Militärisch ist es nie sinnvoll, Unmengen an Soldaten irgendwo hinzubringen und sie dort sterben zu lassen. Bewegung wäre wahrscheinlich die bessere Variante."
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zuletzt aber mehrmals deutlich gemacht, dass die ukrainische Armee Bachmut weiter verteidigen werde. Er äußerte die Sorge, dass die Russen im Falle einer Eroberung Bachmuts schnell weiter vorstoßen könnten.
Die ukrainischen Truppen haben seit dem Kriegsausbruch im Donbass im Jahr 2014 mehrere sogenannte Verteidigungslinien aufgebaut. Im Mai vorigen Jahres gelang es den Russen, die erste Linie zu durchbrechen. In den Wochen danach kam es zur Kesselschlacht um Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, die mit dem Abzug der Ukrainer aus beiden Städten endete.
Auf der zweiten Verteidigungslinie liegen Städte wie Soledar und Bachmut. Soledar wurde von den Wagner-Söldnern im Januar eingenommen - es war der erste militärische Erfolg der Russen seit Monaten. "Die Bedeutung von Bachmut liegt darin, dass man westlich der Stadt, also in Richtung Kramatorsk und Slowjansk, relativ offenes und schwer zu verteidigendes Gelände hat. Die Ukraine würde beim Fall von Bachmut einen großen Raum aufgeben", analysiert Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Der Militärexperte kann durchaus nachvollziehen, dass die Ukrainer deshalb lange und verbissen an Bachmut festhalten. "In Kramatorsk würden die Russen auf die letzte ukrainische Verteidigungslinie treffen, bevor es in das Zentrum der Ukraine geht. Und in Kramatorsk befindet sich auch das Hauptquartier der ukrainischen Truppen im Donbass", erklärt Richter bei ntv.
Ukraine-Offensive wäre besonders kompliziert
Die ukrainische Seite begründet ihren Verteidigungskampf auch immer mit den hohen Verlusten, die Russlands Truppen in der Bachmut-Schlacht zugefügt werden. NATO-Geheimdienste hatten zuletzt geschätzt, dass auf einen gefallenen ukrainischen Soldaten mindestens fünf tote Russen kommen. Laut OSZE sind bislang 20.000 bis 30.000 Russen allein im "menschlichen Fleischwolf" von Bachmut gefallen oder verwundet worden - für gerade mal 25 Kilometer Geländegewinn.
Der Sprecher der ukrainischen Truppen im Osten des Landes, Serhiy Cherevatyi, hat die Verteidigung im ukrainischen Fernsehen vorige Woche auch nochmal gerechtfertigt. Man lasse die Russen "ausbluten und ihre Moral brechen", um Zeit zu gewinnen, bis frische Soldaten bereitstehen, die gerade im Ausland ausgebildet würden. Diese könnten dann später "den Eindringling" von ukrainischem Gebiet vertreiben.
Oberst Reisner zufolge bereiten sich die regulären russischen Truppen hinter den vorrückenden Wagner-Söldnern derzeit aber schon auf genau eine solche ukrainische Offensive vor. "Hier gibt es in den sozialen Netzwerken immer wieder neue Videos, wo man erkennen kann, dass Truppenbewegungen stattfinden. Es werden also aus der Tiefe Kräfte nachgeschoben, hinter den vorrückenden Wagner-Kämpfern. Dies geschieht mit ziemlicher Sicherheit, um Vorbereitungen für die Abwehr einer ukrainischen Offensive zu treffen."
Erschwerend hinzu komme die Tatsache, dass eine Offensive von Kiews Truppen in der Donbass-Region besonders kompliziert werden dürfte. Militäranalyst Reisner spricht von "einigen Herausforderungen", vor allem bei einer Offensive Richtung Norden. "Hier müssten die Ukrainer durch ihre eigenen Minenfelder angreifen, die sie sehr massiv verlegt haben. Es gibt zudem einige trennende Geländehindernisse, wie zum Beispiel einen Kanal, der zu überbrücken wäre."
Operation Richtung Süden sinnvoller
Auch ukrainische Militäranalysten sind unsicher, ob es schlau ist, Bachmut um jeden Preis zu verteidigen. Zuletzt sagte zum Beispiel ein Militärhistoriker, dass bei der Aufgabe von Bachmut "nichts Schlimmes" passieren könne, sofern Truppen und Ausrüstung vorher abgezogen würden.
Ein weiteres Argument für die Aufgabe von Bachmut: Russland hält mit seiner Belagerung die Ukraine von Offensiven anderswo ab. Die Ukraine verbraucht massiv Munition, die in einigen Wochen für eine Offensive in einem anderen Gebiet fehlen könnte, mahnt auch Reisner im ntv-Interview. "Die Situation war so, dass nach den Erfolgen der Ukraine bei Charkiw und Cherson eigentlich schon letztes Jahr geplant war, eine Offensive in Richtung Melitopol voranzutreiben. Die Russen haben dann aber unter anderem mit den abgezogenen Kräften aus Cherson begonnen, massiven Druck aufzubauen."
Deshalb habe die Ukraine Bataillon um Bataillon nach Bachmut geschickt, um dem Druck dort standzuhalten. Die Offensive blieb aus und gleichzeitig nutzten sich die Reserven der Ukrainer sukzessive ab. Nun wird versucht, mit der Aufstellung neuer Brigaden die Voraussetzungen für eine neue Offensive zu schaffen.
Sollte es demnächst wieder zu einer ukrainischen Offensive kommen, hält Ex-Oberst Wolfgang Richter eine Operation in Richtung Süden, hin zum Asowschen Meer, für sinnvoll. So könnte es Kiews Truppen gelingen, die Verbindung zwischen dem Donbass und Mariupol und sogar der Krim ganz oder teilweise zu unterbrechen. "Das wäre für die Russen eine sehr schmerzliche Geschichte. Dann müssten sie die ganze Logistik wieder über die Brücke zur Halbinsel Kertsch führen, und die ist auch verwundbar. Wenn man die Lage militärisch-analytisch betrachtet, wäre das die wahrscheinlichere Angriffsrichtung", ist Richter überzeugt.
Die Frage ist, ob die Ukrainer genügend Waffen, Munition und vor allem Soldaten zusammenbekommen, um eine solche Offensive durchführen zu können. Es sieht so aus, als spiele die Ukraine in Bachmut auf Zeit, um einerseits die nächste Verteidigungslinie hinter Bachmut zu stärken und anderseits die Chance für eine erfolgreiche Offensivoperation im Donbass zu erhöhen.
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Quelle: ntv.de