Drei Szenarien für Polen "Das ist die wichtigste europäische Wahl in diesem Jahr"
14.10.2023, 09:41 Uhr Artikel anhören
Wahlkampfauftritt mit PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. "Es gibt Grund zur Hoffnung, dass nach den Wahlen wieder ein etwas vernünftigerer Ton in die Debatte kommt - unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht", sagt Rolf Nikel.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
An diesem Sonntag entscheiden die Polen, ob die rechtskonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) an der Macht bleibt oder von der Bürgerplattform abgelöst wird. Erwartet wird ein knapper Ausgang. Geprägt war der Wahlkampf nicht zuletzt von antideutschen Tönen aus der PiS-Partei. "Aus deutscher Sicht geht es auch darum, ob diese antideutsche Rhetorik, die in diesem Wahlkampf zu hören war, auch nach der Wahl fortgesetzt wird", sagt Rolf Nikel, der frühere deutsche Botschafter in Polen.
Zugleich warnt Nikel davor, einseitig auf einen Sieg der Bürgerplattform zu setzen. "Ich halte es für absolut notwendig, dass wir mit jeder polnischen Regierung Politik machen", betont er. Auch nach einem Wahlsieg der Bürgerplattform von Donald Tusk werde nicht alles wie vor dem Regierungsantritt der PiS 2015. "Diese acht Jahre sind nicht spurlos an der polnischen Gesellschaft vorbeigegangen."

Rolf Nikel war von 2014 bis 2020 deutscher Botschafter in Warschau. Seit 2020 ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
(Foto: DGAP)
ntv.de: Sie haben vor ein paar Monaten im Interview mit ntv.de gesagt, der durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste "polnische Moment" könnte schnell wieder vorbei sein. Bevor wir darüber sprechen, ob er schon vorbei ist: Was meinten Sie mit dem "polnischen Moment"?
Rolf Nikel: Ich glaube, das ist damals ein bisschen missverstanden worden, vor allem in Polen. Mir geht es darum, dass wir jetzt ein Fenster der Gelegenheit haben, in dem Polen und Deutschland auf Augenhöhe eine gemeinsame europäische Ostpolitik entwickeln können. Die deutsche Politik hat in der Vergangenheit in ihrer Ostpolitik große Fehler gemacht; ich habe diesen Sachverhalt ja in meinem Buch "Feinde Fremde Freunde: Polen und die Deutschen" ausführlich dargelegt. Aber mit der "Zeitenwende" hat Deutschland einen neuen Weg eingeschlagen, eine Annäherung an die polnischen Vorstellungen. Jetzt ist der Moment, in dem wir konzentriert über diese Dinge nachdenken sollten.
Schon in Ihrem Buch haben Sie geschrieben, es bestehe "die reale Gefahr, dass die PiS-Regierung diesen 'polnischen Moment' vorüberziehen lässt". Ist das im Wahlkampf nicht schon passiert?
Nein, das Fenster der Gelegenheit ist nicht zeitlich definiert. Es kommt darauf an, die Chance zu nutzen. Denn gemeinsame Interessen gibt es genug, wir müssen sie nur definieren: Wie soll das Verhältnis zur Ukraine gestaltet werden, wann und unter welchen Umständen wird die Ukraine Mitglied in der Europäischen Union werden, wie soll das Verhältnis Europas zu Russland künftig aussehen? Solche Fragen sollten wir gemeinsam diskutieren.
Ist das noch möglich angesichts der Tiraden gegen Deutschland, die im Wahlkampf von der PiS gekommen sind?
Natürlich war der Wahlkampf stark von antideutschen und europakritischen Elementen geprägt. Das hat nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Atmosphäre beigetragen. Aber Wahlkampf ist Wahlkampf. Es gibt Grund zur Hoffnung, dass nach den Wahlen wieder ein etwas vernünftigerer Ton in die Debatte kommt - unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht.
Wird in Deutschland eigentlich genug gewürdigt, dass die PiS in Polen zumindest Ansätze eines Sozialstaats eingeführt hat?
Ein großer Teil des Wahlerfolgs der PiS darauf beruht, dass die Sozialleistungen stark verbessert wurden - etwa durch die Erhöhung des Kindergeldes und der Sozialleistungen für Senioren. Die PiS ist seit acht Jahren an der Macht, sie hat zweimal die Parlamentswahlen und zwei Präsidentschaftswahlen gewonnen. Ihre Sozialpolitik war dabei sicher ein wichtiger Punkt.
Ist dann nicht auch verständlich, dass viele Polen skeptisch sind, das Land noch einmal einer Partei anzuvertrauen, die keinen so großen Wert auf den Aufbau von Sozialsystemen gelegt hat, die in westeuropäischen Ländern wie Deutschland Standard sind?
Polen hat sich in den letzten Jahren wirtschaftlich sehr stark entwickelt, nicht zuletzt wegen der europäischen Fonds und auch der wirtschaftlichen Kooperation mit Europa, insbesondere mit Deutschland. Die Gestaltung der Sozialpolitik ist eine Frage, die jeder Staat und jede Partei für sich beantworten muss.
Ein aus deutscher Sicht besonders seltsames Phänomen im polnischen Wahlkampf ist der Umfrageerfolg der rechtsextremen und prorussischen Partei Konfederacja. Ist denkbar, dass die PiS mit ihr ein Bündnis eingeht?
Die Konfederacja ist ein Sammelbecken der verschiedensten Gruppierungen. Sie finden darin unterschiedliche Vorstellungen am rechten Rand, unter anderem auch wirtschaftslibertäre Vorstellungen, mit denen die Partei in den Umfragen gepunktet hat. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Konfederacja auf 10 Prozent kommt und zwischen der von der Bürgerplattform geführten Opposition und der PiS zum Zünglein an der Waage wird. Vielleicht wird sie nicht in eine Koalition eintreten, sondern die Regierung in Form einer Duldung stützen oder in anderer Form Einfluss auf die Regierungsbildung gewinnen. Für die Berechenbarkeit der polnischen Außenpolitik, für die europäische Russlandpolitik und für das polnische Verhältnis zu Europa wäre das ein schwieriges Szenario.
Erklärt der Umfrageerfolg der Konfederacja auch die Haltung der polnischen Regierung zu den Getreideimporten aus der Ukraine?
Die Konfederacja ist gegenüber der Ukraine sehr viel skeptischer eingestellt als die derzeitige Regierung. Was man von PiS-Politikern zuletzt zur Ukraine gehört hat, muss man letztlich auch in den Wahlkontext einordnen. Wenn der Wahlkampf vorbei ist, wird diese Problematik vermutlich zumindest für eine Zeit in den Hintergrund treten. Allerdings muss man auch sagen, dass mit Blick auf die Landwirtschaft zwischen Polen und der Ukraine gewisse Konkurrenzsituationen auftreten können. Die polnische Landwirtschaft ist sehr leistungsfähig, die ukrainische aber auch. Sollte die Ukraine Mitglied der Europäischen Union werden, könnte Polens Nettoempfängerposition schrumpfen, das Land vielleicht sogar zum Nettozahler werden. Und natürlich gibt es auch historische Probleme zwischen Polen und der Ukraine, die sich zumeist auf das Massaker in Wolhynien beziehen. Damals, 1943, wurden Zehntausende, manche sagen 100.000 Polen unter den Augen der deutschen Besatzer ermordet.
Die staatlichen Medien berichten in Polen recht einseitig zugunsten der PiS. Wie frei ist der Wahlkampf in Polen überhaupt?
Ich habe keinerlei Zweifel, dass der Wahlgang selbst demokratisch abläuft. Aber Wahlen werden nicht allein an der Urne entschieden, sondern eben auch im Wahlkampf. Ob der fair war? Dazu gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Die staatlichen Medien, vor allem der Fernsehsender TVP, ergreifen schon in bemerkenswerter Weise Partei für die Regierung. Ich habe mir die Debatte der Spitzenkandidaten angesehen. Wie die Moderatoren da aufgetreten sind, wie sie dort lange Monologe im Sinne der PiS gehalten haben, das war schon bedenklich. Auf der anderen Seite wird diese Debatte keinen großen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Und es gibt ja private Medien, die ein breites Meinungsspektrum abdecken.
In beiden Lagern wird die Wahl zu einer Schicksalswahl hochstilisiert. Zu Recht?
Dies ist schon eine der wichtigsten Wahlen in Polen seit 1989, sicherlich die wichtigste europäische Wahl in diesem Jahr. Da steht einiges auf dem Spiel. Innenpolitisch geht es darum, ob das Land in den europäischen Mainstream zurückkehrt oder weiter in die "illiberale Demokratie" abgleitet. Außenpolitisch geht es darum, wie berechenbar Polen sein wird - das hat auch etwas mit dem Einfluss der Konfederacja zu tun. Und aus deutscher Sicht geht es auch darum, ob diese antideutsche Rhetorik, die in diesem Wahlkampf zu hören war, auch nach der Wahl fortgesetzt wird.
Haben Sie eine Prognose, wie die Wahl ausgeht?
Im Wesentlichen gibt es drei Szenarien. Das erste: Die PiS gewinnt die Wahl mit absoluter Mehrheit der Sitze im Sejm. Dann dürfte die derzeitige Politik mehr oder weniger fortgesetzt werden. Wenn die Opposition gewinnt, dann wird es einige Veränderungen geben. Aber ich warne davor, zu erwarten, dass dann alles wird wie vor 2015. Das wird nicht der Fall sein. Diese acht Jahre sind nicht spurlos an der polnischen Gesellschaft vorbeigegangen.
Und das dritte Szenario?
Darüber haben wir schon gesprochen: Es gibt ein Patt zwischen PiS und Bürgerplattform, keine der beiden Gruppierungen erreicht die Mehrheit von 231 Sitzen im Sejm. Dann könnte es dazu kommen, dass die Konfederacja oder Teile davon zum Mehrheitsbeschaffer werden.
Könnte die Europäische Union es sich leisten, dass Polen nicht in den europäischen Mainstream zurückkehrt?
Wir haben in den kommenden Monaten und Jahren in Europa eine Vielzahl von Problemen zu lösen. Die NATO muss ihre Anpassungen an den neuen Rahmen fortsetzen, der durch die russische Aggression gegen die Ukraine entstanden ist. Europa muss die Sprache der Macht lernen, wie der EU-Außenbeauftragte Borrell das mal formuliert hat. Wir müssen gemeinsam eine stärkere europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik definieren, und dafür ist es wichtig, dass Polen dabei ist. Auch in der Frage der Erweiterung der Europäischen Union müssen wir vorankommen, aber dafür muss die EU auch institutionelle Reformen durchsetzen, damit die Union mit dreißig oder fünfunddreißig Mitgliedern handlungsfähig bleibt. Auch hier ist Polens Stimme wichtig.
Da klingt ein Wunsch durch, was den Wahlausgang angeht.
Ich halte es für absolut notwendig, dass wir mit jeder polnischen Regierung Politik machen. Das ist vielleicht in einem Fall schwieriger als im anderen, aber es wäre völlig unpolitisch zu sagen, dass wir nur mit einer bestimmten Partei zusammenarbeiten wollen. Das funktioniert in Europa nicht. Wichtig wäre jetzt, dass die antideutsche Rhetorik runtergefahren wird, denn das ist ein sehr unguter Rahmen für gemeinsame Unternehmungen. Über vieles andere können wir reden.
Auch über die polnischen Reparationsforderungen?
Deutschland und Polen haben andere Rechtsauffassungen dazu. Für Deutschland ist das Thema rechtlich und politisch spätestens nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag erledigt. Unabhängig davon ließen sich auf freiwilliger Basis sicherlich Dinge machen - freiwillige Zahlungen an Opfergruppen, die noch keine Entschädigung erhalten haben, auch Beteiligung an Wiederaufbaumaßnahmen von im Zweiten Weltkrieg zerstörter Gebäude, die Förderung des Jugendaustausches oder andere Dinge, die für Polen interessant sind.
Mit Rolf Nikel sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de