Politik

Wo Camerons und Merkels fielen Europa, triefend von Blut und Symbolik

Die blutroten Mohnblumen von den Feldern von Flandern - in Großbritannien ein Symbol für die Toten des Ersten Weltkriegs.

Die blutroten Mohnblumen von den Feldern von Flandern - in Großbritannien ein Symbol für die Toten des Ersten Weltkriegs.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Wo vor hundert Jahren Hunderttausende im Kampf um wenige Quadratkilometer Boden verreckten, treffen sich heute die Regierungschefs der EU. Entscheidungen werden nicht verkündet. Es wäre zu demütigend für David Cameron.

Die meisten Deutschen wissen vermutlich nicht einmal, wo Ypern liegt. Anders in Großbritannien: Jedes britische Schulkind hat schon einmal von den Schlachten bei Ypern gehört.

Die Stadt liegt in Belgien, genauer: in Flandern. In der Nähe von Ypern setzten die deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg erstmals Chlorgas ein, am 22. April 1915. Tausende französische Soldaten erstickten qualvoll; es war der Auftakt zur zweiten Flandernschlacht. Zwei Jahre später, am 12. Juli 1917, testeten die Truppen des Kaisers hier Senfgas, das nicht nur die Atemwege angreift, sondern auch schwere Verätzungen auf der Haut auslöst. Yperit heißt diese Chemiewaffe bis heute im Französischen.

Für Briten, Belgier, Franzosen und Amerikaner steht Ypern für ein gigantisches Massensterben. Hunderttausende fanden in den Flandernschlachten zwischen 1914 und 1918 einen sinnlosen Tod. Allein in der dritten Flandernschlacht starben unter den Commonwealth-Truppen für die winzigen Gebietsgewinne der Briten 25 Mann pro Meter.

Hier, in Ypern, treffen sich an diesem Donnerstag die Regierungschefs der Europäischen Union. Sie werden an den Ersten Weltkrieg erinnern und gemeinsam zu Abend essen. Danach fahren sie nach Brüssel, wo Entscheidungen fallen und verkündet werden sollen. Denn vor allem für die Briten ist Ypern viel zu symbolbeladen, um Schauplatz für eine britische Niederlage zu sein.

Hier starben Merkels und Camerons

Bundeskanzlerin Angela Merkel, der britische Premierminister David Cameron, Frankreichs Staatspräsident François Hollande, der belgische Premierminister Elio Di Rupo und ihre Kollegen aus all den anderen EU-Staaten: Sie werden am Donnerstagabend und am Freitag streiten, wie sie es häufig tun bei EU-Gipfeln. Aber vielleicht werden sie dabei auch ein Gefühl der Beklemmung haben: Wie lächerlich klein ihre Differenzen sind angesichts der Katastrophe, die hier vor 100 Jahren stattfand.

Zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs eignet Ypern sich wie kaum eine andere Stadt: Zahlreiche Soldatenfriedhöfe befinden sich hier, man kann sich Schützengräben anschauen und ein Museum, in dem die Namen der Toten gesammelt werden. Viele Müllers starben in Flandern, zahlreiche O'Briens, Smiths, Dubois, de Jonghes, auch ein paar Merkels, einige Camerons, ein Belgier namens Hollande. Tatsächlich fielen drei Verwandte von David Cameron in Flandern - sie hießen allerdings nicht Cameron. In Großbritannien ist es nicht ungewöhnlich, so etwas über seine Familie zu wissen.

Ein paar Schritte von diesem Museum entfernt, an der Pforte von Menin, wird allabendlich an die Toten erinnert: Bläser der örtlichen Feuerwehr spielen das britische Hornsignal "The Last Post". An dieser Stelle werden auch die Regierungschefs der Europäischen Union der Gefallenen gedenken.

Dies ist der Auftakt für den EU-Gipfel, danach laufen die Regierungschefs für das obligatorische Familienfoto zum Rathausvorplatz, anschließend ist ein "Arbeitsabendessen" angesetzt. Für Merkel bedeutet das, dass sie das Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die Auswahl der USA nicht sehen kann - allenfalls die zweite Halbzeit, wenn sich am Rande des Essens ein Fernseher auftreiben lässt. "Das wird ein Abend, der ganz der Arbeit mit den europäischen Kollegen gewidmet ist", heißt es dazu aus der Bundesregierung.

Es wird also gearbeitet, aber nichts entschieden. Erst tags darauf, in Brüssel, soll der Luxemburger Jean-Claude Juncker als neuer EU-Kommissionspräsidenten nominiert werden. Ohne Krach wird das nicht über die Bühne gehen: Der Brite Cameron fordert eine formale Abstimmung; er will dokumentieren, dass er gekämpft hat bis zum Schluss. Eine Niederlage in Ypern jedoch soll ihm erspart bleiben. Denn dieses Symbol, das deutschen Lesern erst erklärt werden muss, erschließt sich Briten auf den ersten Blick. "Welch wilde Ironie", schrieb ein Kolumnist des Boulevardblatts "Daily Mail" vor zwei Tagen. Ausgerechnet in Ypern, "der Stadt, in der so viele Briten im Kampf gegen die deutsche Vorherrschaft starben", gebe die EU ihren Spitzenjob an einen "Erzföderalisten". Ein schlimmeres Schimpfwort gibt es für britische Konservative nicht. In Ypern habe das britische Engagement für Europa begonnen, hier werde es möglicherweise enden, heißt es in dem Kommentar unter Anspielung auf das Referendum von 2017, in dem die Briten möglicherweise den Ausstieg aus der EU beschließen werden.

Wie gut, dass heute Abend Deutschland nicht gegen England spielt.

Quelle: ntv.de

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