"Bruch der Brandmauer"EVP und rechte Fraktionen kippen EU-Lieferkettengesetz

Seit Sommer 2024 gilt in der EU ein Lieferkettengesetz. Große Unternehmen müssen dokumentieren, wie die Arbeitsbedingungen in ihrer Lieferkette sind. Jetzt wird das Gesetz deutlich abgeschwächt - mithilfe rechter Fraktionen. Erste Politiker sehen die Brandmauer eingerissen.
In Deutschland hält Bundeskanzler Friedrich Merz an seiner Absage einer Zusammenarbeit mit der AfD fest - in Brüssel sind Mehrheiten der Europäischen Volkspartei (EVP) um die deutschen Unionsparteien mit Rechtsfraktionen hingegen nicht neu. Jetzt stimmte eine solche Mehrheit im Parlament für weitreichende Lockerungen des europäischen Lieferkettengesetzes. Ein Kompromiss der EVP mit Sozialdemokraten und Liberalen war zuvor gescheitert.
Die Sitzverteilung im Europaparlament sorgt dafür, dass sich die EVP ihre Mehrheiten aussuchen kann: Links oder rechts der eigenen Position. Jahrelang war es üblich, dass sich EVP, Sozialdemokraten und Liberale auf einen Kompromiss einigen. Seit den Wahlen im vergangenen Jahr reichen der EVP auch die Stimmen der verschiedenen Rechtsfraktionen zu einer Mehrheit, häufig unterstützt durch einige liberale Abgeordnete.
Anders als im Bundestag gibt es auf EU-Ebene keine Regierungskoalition. Die Mehrheiten sind von Gesetz zu Gesetz verschieden. Die EVP stimmte bislang vor allem dann mit den Rechtsfraktionen, wenn es um die Abwicklung von Vorschriften für Unternehmen oder Umweltvorgaben geht.
EVP-Chef Manfred Weber sieht Teile der Rechtsfraktionen als verlässliche Partner, etwa die Partei der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni. Auch die AfD hat der EVP jedoch bereits zur Mehrheit verholfen. Im vergangenen Jahr nahm eine CDU-geführte Mehrheit Anträge an, die ohne die Stimmen der AfD nicht beschlossen worden wären - damals ging es um ein Gesetz gegen Abholzung.
Abstimmung zum Lieferkettengesetz
Bei der heutigen Entscheidung stimmte das Europaparlament für weitreichende Lockerungen des EU-Lieferkettengesetzes. Die Abgeordneten nahmen einen Entwurf an, nach dem zahlreiche Unternehmen von den Berichtspflichten ausgenommen würden.
Ursprünglich wollte die EU mit dem Lieferkettengesetz Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten und 450 Millionen Euro Jahresumsatz für Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung in ihrer Produktion in die Pflicht nehmen. Die Mehrheit im Europaparlament will diese Schwelle nun auf mindestens 5000 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von mindestens 1,5 Milliarden Euro anheben. Das entspricht der Position einer Mehrheit der 27 EU-Staaten.
Die Parlamentsmehrheit setzt sich für weitere Lockerungen ein. Anders als bislang vorgesehen, sollen die Konzerne nicht mehr grundsätzlich ihre gesamte Lieferkette kontrollieren und sich stattdessen auf Zulieferer konzentrieren, bei denen sie ein hohes Risiko für Verstöße vermuten. Sie müssten damit deutlich weniger Informationen liefern.
Eine EU-weite Haftung für Verstöße gegen das Gesetz soll gestrichen werden. Damit hingen etwa Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung von den Gerichten in den unterschiedlichen EU-Staaten ab. Die Abgeordneten müssen nun mit dem Rat der 27 EU-Staaten über die Änderungen verhandeln. Eine Reihe von Regierungen hatte in den vergangenen Wochen auf eine rasche Einigung gedrängt, so auch Kanzler Merz.
Grüne und SPÖ sehen Bruch der Brandmauer
Die Abstimmung bezeichnet die handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion, Anna Cavazzini, als "erstmaligen Bruch der Brandmauer" bei solch einem wichtigen Gesetzesvorschlag. Dies stelle den Unvereinbarkeitsbeschluss der Union infrage, sagte Cavazzini in einer Mitteilung.
"Manfred Webers EVP hat heute eine gefährliche Grenze überschritten: Erstmals hat sie ein Gesetz bewusst und kalkuliert mit den Stimmen der extrem Rechten durch das Parlament gebracht. Dabei hatten wir als proeuropäische Fraktionen der EVP mehrfach konstruktive Kompromisse angeboten, um das Lieferkettengesetz schlanker zu machen, ohne seine Kernziele zu verwässern", so die Grünen-Politikerin. "Dieser Bruch der Brandmauer wird die Zusammenarbeit der proeuropäischen Fraktionen in der Zukunft beschädigen. Das lähmt die Europäische Union in einer Zeit, in der mehr denn je Handlungsfähigkeit gefragt ist."
Ähnlich äußerte sich auch Evelyn Regner von der SPÖ. "Die EVP (ÖVP) hat heute das Lieferkettengesetz gemeinsam mit der extremen Rechten zu Grabe getragen und damit die Brandmauer im Parlament gegen extrem rechts eingerissen", schrieb die österreichische Sozialdemokratin auf X. "Anstatt Verantwortung für Mensch und Umwelt zu übernehmen, macht sie das Gesetz zur leeren Hülle."