
Bei der Kabinettsklausur in Meseberg sagte Scholz, es sei "auch für das deutsche Volk ein Problem, dass der Bundespräsident in der Ukraine ausgeladen worden ist".
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Während die Ukraine um ihre Existenz kämpft, fliehen die Deutschen in Ersatzdebatten über Völkerrecht, Anstand und Schweinswale.
Wenn Hähne kämpfen, kann das fürchterlich ausgehen: Vom Rackelhahn existieren Videos, in denen er seinem Gegner im Blutrausch den Kopf abreißt und danach die Leiche schändet. Manchmal verhalten sich Hähne mitten im Kampf aber auch irrational: Sie picken eingebildete Körner vom Boden auf, als wäre ein Gefecht der beste Zeitpunkt für eine Brotzeit. Es ist eine Übersprungshandlung, eine Flucht aus dem Überfordertsein. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Wir Deutschen kennen solche Fluchten. In diesen Tagen haben wir ein ganzes Bouquet an Fluchtstrategien zusammengebunden: Wir reden über alles, um nur nicht drüben zum Kriegsgrauen zu blicken.
So stülpen wir Putins Barbarei pseudoformale Kriterien über: Werden wir "Kriegspartei", wenn die Bundesregierung "Gepard"-Panzer, "Marder"-Panzer, "Leopard"-Panzer liefert? Das ist die Kernfrage des berüchtigten "offenen Briefs" von Alice Schwarzer und anderen Prominenten. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mischte sich im Auftrag einer Linken-Politikerin ein: Die Ausbildung von Soldaten sei entscheidend, schrieb er.
Die Angst vor schierer Gewalt
Wir tun damit so, als säße im Kreml ein besonnener Mitspieler, wir müssten nur die Spielanleitung auffalten und rufen: Ha, "Geparden" gelten nicht! Das ist absurd. Putin schert sich nicht um Recht. Das sahen auch andere so: Professoren widersprachen, Kommentatoren mahnten, auf den offenen Brief antworteten andere Prominente mit einem ebenfalls offenen Gegenbrief - die deutsche Öffentlichkeit: fleißig am Körner picken.
Wir zahlen derzeit mehr und nicht weniger an Russland als vor dem Krieg, 116 Millionen Euro. Polen liefert derweil das Zehnfache, die USA das Zwanzigfache an Waffen im Verhältnis zu Deutschland. Es sind Staaten, die in Putin den Rackelhahn sehen, der er ist.
Die völkerrechtliche Wahrheit ist schlicht: Die Ukraine verteidigt sich gegen einen Aggressor. Das darf sie, das ist komplett unstrittig, denn die UN-Charta sieht in Artikel 51 ein Selbstverteidigungsrecht vor. Um mir da ganz sicher zu sein, habe ich vergangene Woche sogar noch einmal eine Völkerrechtlerin befragt. Die juristische Konsequenz: Jeder andere Staat der Erde dürfte ihr zu Hilfe eilen - und zwar mit viel, viel, viel mehr, als derzeit geschieht. Was uns davon abhält, ist nicht das Recht - sondern die Angst vor der Atombombe, vor schierer Gewalt.
Spricht der Kanzler für "das Volk"?
Wenn wir keine pseudojuristischen Debatten führen, bewerten wir das diplomatische Benehmen von ukrainischen Funktionsträgern: Der freche Botschafter Andrij Melnyk hier, der unverschämte Wolodymyr Selenskyj da. Olaf Scholz, protokollarisch Nummer 3 in Deutschland, reiste nicht nach Kyjiw, weil der Bundespräsident (die Nummer 1) nicht kommen durfte. "Es ist auch für das deutsche Volk ein Problem, dass der Bundespräsident in der Ukraine ausgeladen worden ist", sprach der Kanzler.
Der Kanzler und das Volk: So, so. Der Sozialdemokrat erklärt zwecks Selbstvergewisserung gut 83 Millionen Deutsche zu mitbeleidigten Leberwürsten - was ich wiederum als beleidigend empfinde. Tatsächlich schmollen allerdings 63 Prozent der Deutschen mit ihm. Doch der Jurist Scholz mag einmal im Staatsrecht nachschauen, wie repräsentative Demokratie funktioniert. "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" war mal, ein Kanzler spricht nicht für "das Volk", nicht "im Namen des Volkes" - sondern, ganz profan, für die Regierung. Und sagte nicht Scholz kürzlich, Führen sei, wenn man sich gegen die Meinung anderer Leute durchsetze?
Es mag Scholz trösten, dass auch Oppositionsführer Friedrich Merz sich durch Selbstüberhöhung zu entzaubern versteht: Der CDU-Chef fuhr - politisch und praktisch mutig - in die Ukraine und erntete dafür viel Lob, auch wenn seine Anreise wirkte wie eine Urlaubsrezension auf Sonnenklar TV: Merz saß aufgeräumt in einem Zugabteil, schwärmte ("alles sicher, alles gut und die ukrainischen Behörden äußerst kooperativ, sehr angenehme Menschen") und sah aus, als würde er jeden Moment ein gekochtes Ei aus der Brotdose holen.
"Ich bin großartig"
Leider erklärte er nach seiner Rückreise den eigenen Erfolg dermaßen plump, dass er sofort wieder schrumpfte. "Ich bin Präsident Selenskyj sehr dankbar, dass er meiner Bitte um eine Einladung des Bundespräsidenten gefolgt ist", schrieb Merz, der "Weg ist frei für persönliche Begegnungen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers mit Präsident Selenskyj in Kiew". "Ich bin großartig", sagt man nicht. Man ist es.
Die EU macht es richtig. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach zum einen aus, was Scholz nicht wagt: Russland müsse verlieren. Deshalb soll in sechs Monaten kein Öl mehr aus Russland fließen. Wie schön: Wenn die klarsten Worte zum Konflikt eine Ebene höher ausgesprochen werden, haben wir wieder mehr Zeit für Übersprungsdebatten.
Über Schweinswale zum Beispiel: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck feierte sich gerade zu Recht für ein eilig und pragmatisch durchgewunkenes Flüssiggasterminal in Wilhelmshaven, da greift ihm die Deutsche Umwelthilfe in die Speichen - und legt Schweinswalswiderspruch ein. Selbst der "taz" ist das zu verbohrt, die Empörung wächst, und wie auch immer der Streit endet: Wir kümmern uns schon wieder um Paragrafen und Tierchen, statt um warme Wohnungen und den Krieg.
Warten auf die Antwort der Geschichte
Man muss die katastrophenfeste Verträumtheit der Deutschen bewundern. Sie hat allerdings einen Preis: Wie sagte die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Iryna Andrijiwna Wereschtschuk kürzlich in Richtung von Bundeskanzler, Bundespräsident, Ex-Bundeskanzlerin? "Die Geschichte wird Ihnen alle Antworten geben."
Aber da hören wir vermutlich auch nicht so richtig hin. Ich sehe grad, da liegen ein paar Körner auf dem Boden: die picken sich nicht von selbst.
Quelle: ntv.de