EU-Kommission vor Mammutaufgabe Europa fällt alarmierend zurück
04.12.2024, 16:14 Uhr Artikel anhören
Symbol einer maroden Bildungslandschaft, nicht nur in Deutschland: die Ruine eines Berliner Gymnasiums. (Archivbild)
(Foto: picture alliance / Caro)
Die neu eingesetzte Europäische Kommission steht vor einer langfristigen Herausforderung: Die EU fällt hinter den USA und anderen Ländern zurück - und das schon seit einiger Zeit. Eine Entwicklung, die sich umkehren lässt.
Eine gute Nachricht vorweg: Die Demokratie in der Europäischen Union funktioniert. Die Europäische Kommission steht seit vergangener Woche. Sie ist vom Europäischen Parlament gebilligt. Sie ist fast vollständig proeuropäisch. Das ist nicht selbstverständlich, da inzwischen in sechs Mitgliedsländern entweder die Regierungschefs von Rechtsaußen kommen oder Rechtsaußenparteien an den Regierungen beteiligt sind. Aber im Europäischen Parlament besteht eine starke pro-europäische Mehrheit, die eine politisch anders ausgerichtete Kommission nicht zugelassen hätte.
Die Europäische Kommission hat auch schon ihre wichtigsten politischen Ziele in der Klimapolitik, in der Industriepolitik, im Bürokratieabbau und in der Verteidigung angekündigt. Sie reagiert damit aus guten Gründen auf drei besonders massive Herausforderungen: auf die Verheerungen durch die Klimakrise, auf den schweren Stand der europäischen Wirtschaft in der inzwischen zunehmend entliberalisierten Weltwirtschaft und auf den Krieg in der Ukraine.
Man muss betonen: Die Europäische Kommission hat während der ungewöhnlich vielen Krisen seit der 2008 begonnenen Finanzkrise gelernt, wie sie auf Krisen rasch reagiert und wie die europäischen Ressourcen mobilisiert werden können. Vor allem während der Corona-Pandemie und bei der europäischen Antwort auf den russischen Angriff in der Ukraine hat sie das geleistet, was die Mitgliedstaaten auf sich alleine gestellt nicht leisten könnten.
Bei wichtigen Kennziffern nicht mehr auf Augenhöhe
Doch diese neue Europäische Kommission wird auf eine grundlegende Herausforderung reagieren müssen: Die Europäische Union fällt zunehmend hinter die USA und hinter China zurück. Eine Tatsache, die in der europäischen Öffentlichkeit noch mehr Berücksichtigung finden sollte.
Immerhin: Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank und ehemalige Ministerpräsident Italiens, Mario Draghi, hat in einem gründlichen und klugen, aber zu wenig zitierten Bericht darauf hingewiesen, dass die Europäische Union seit der Finanzkrise von 2008 bis 2012 in ihrem Sozialprodukt immer weiter hinter die USA zurückfiel. 2008 war die Wirtschaft der EU noch fast so groß wie die der USA. Heute liegt sie um rund 30 Prozent hinter der amerikanischen Wirtschaftsleistung zurück.
Hinzukommt: 2008 war die Europäische Union noch die wichtigste Drehscheibe des Welthandels mit Industrieprodukten. Heute wird 30 Prozent mehr Handel von China als von der Europäischen Union abgewickelt. Draghi schlägt der EU vor, die Energiepreise zu senken, die öffentlichen und privaten Investitionen zu stimulieren und die wirtschaftliche und militärische Zukunftsunsicherheit abzubauen.
Wohlfahrtsstaat kein Alleinstellungsmerkmal mehr
Darüber hinaus gibt es ein drittes, wenig bekanntes Zurückfallen Europas: Auch in den Leistungen des Wohlfahrtsstaates verliert die Europäische Union ihren Vorsprung. Man nimmt immer an, dass die Europäische Union in der ganzen Welt die beste Absicherung gegen materielle Krisen des Lebens bietet und man deshalb auch in der Europäischen Union sicherer und länger lebt. Aber inzwischen geben die USA und Japan einen fast ebenso großen Teil ihrer Wirtschaftsleistung für den Wohlfahrtsstaat aus. Der europäische Vorsprung schrumpft.
Noch beunruhigender ist der wachsende Rückstand der EU bei der Bildung: In der Qualität der Bildung, gemessen an den Kenntnissen von 15-jährigen Schülern und Schülerinnen, fällt die Europäische Union seit dem Ende der 2000er Jahre nicht nur hinter ostasiatische Länder wie Japan, Singapur und Korea zurück. Auch in den USA haben sich die Schulergebnisse in den letzten zehn Jahren besser entwickelt als in der Europäischen Union.
Die Europäische Union besitzt im Bereich des Wohlfahrtsstaates und der Bildung wenig eigene Entscheidungskompetenzen. Aber sie kann durch kontinuierliches Drängen mit internationalen Vergleichen und durch Kontrolle der Staatshaushalte der Mitgliedsländer, die sie jährlich vornimmt, die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer auf bestimmte Ziele hin orientieren.
Das Zurückfallen der Europäischen Union hinter die USA und hinter Ostasien lässt sich aufhalten. Europa hat in seiner Geschichte solche Rückstände schon erfolgreich aufgeholt. Es wäre aber wichtig, dass die Europäische Union dieses alarmierende Zurückfallen der EU-Staaten sich zum Thema macht. Sie muss ihre Wirtschaftspolitik und ihren Einfluss in der Öffentlichkeit darauf ausrichten, dass dieser Rückstand wieder abgebaut werden wird - und die EU ihre Position in der Welt hält.
Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.
Quelle: ntv.de