Estland hängt die Deutschen ab Europa verpasst den digitalen Anschluss
08.07.2020, 21:03 Uhr
"Zukunftspolitik ist in Europa immer noch ein Flickenteppich": Angela Merkel begutachtet an der TU München einen "Pflegeroboter".
(Foto: picture alliance/dpa)
Künstliche Intelligenz? Schnelle Daten? Quanten-Rechner? Berliner Forscher werten erstmals aus, wie intensiv sich Europas Regierungschefs den großen Zukunftsthemen widmen. Die Ergebnisse ihrer Studie fallen größtenteils ernüchternd aus.
Wie gut ist Europa für das anbrechende Zeitalter des technologischen Fortschritts gerüstet? Die nach dem EU-Austritt Großbritanniens verbliebenen 27 Länder der Europäischen Union ziehen einer aktuellen Studie zufolge im Umgang mit den großen Technologiethemen alles andere als an einem Strang.
Im Gegenteil: "Wichtige Zukunftstechnologien werden von den europäischen Staats- und Regierungschefs vernachlässigt", lautet eines der Ergebnisse aus dem "Digital Engagement Report 2020". Erstmals werden in dieser Erhebung die themenbezogenen Aktivitäten europäischer Spitzenpolitiker systematisch analysiert und vergleichbar gemacht.
"Zukunftspolitik ist in Europa immer noch ein Flickenteppich", fasst der Leiter der Studie, Philip Meissner vom European Center for Digital Competitiveness, eine der Kernaussagen der Studie zusammen. Wichtige Politikfelder wie Künstliche Intelligenz (AI), die Entwicklung von Quanten-Rechnern oder die Digitalisierung im Bildungswesen werden demnach in vielen Ländern nur unzureichend gewürdigt. Dabei steht im Wettbewerb mit digitalen Supermächten wie den USA oder zunehmend auch China nicht weniger als die künftige Rolle Europas in der Welt auf dem Spiel.
"Brauchen digitale Strategie"
"Wie gut Europa in der Lage ist, sich im Bereich der digitalen Technologien zu positionieren, wird seine zukünftige Wirtschaftskraft und geopolitische Position bestimmen", erklärt Meissner, der an der ESCP Business School Berlin lehrt, die Lage. "Wir brauchen endlich einen einheitlichen und kraftvollen Ansatz, um dieses Thema in ganz Europa voranzutreiben. Kurzum brauchen wir eine digitale Strategie für Europa."
Die ESCP Business School ist eine internationale Wirtschaftshochschule mit Standorten in sechs europäischen Metropolen (Berlin, London, Madrid, Paris, Turin und Warschau). Mit dem Gründungsjahr 1819 ist die ESCP eigenen Angaben zufolge "die älteste Business School weltweit".
In einer aufwändigen Erhebung analysierten die Forscher um Meissner, in welchem Ausmaß sich die Staats- und Regierungschefs im vergangenen Jahr ausgewählten Themenfeldern der Zukunft angenommen haben. Gezählt wurden dabei nicht nur die Anzahl an einschlägigen Auftritte vor der Presse, sondern auch die Teilnahme der jeweiligen Politiker an Spitzengesprächen, Konferenzen oder Messen. Als digitale Aktivitäten gewertet wurden zudem alle persönlichen Interaktionen rund um das Thema Digitalisierung auf Basis öffentlich zugänglicher Regierungsinformationen, Pressemitteilungen sowie sachbezogene Verlautbarungen der Regierungschefs per Twitter. Kurz: Im Fokus stand das persönliche Engagement der zentralen Entscheidungsträger.
Die Idee: Je häufiger sich Premierminister, Kanzler oder Staatspräsidenten persönlich für die neuen digitalen Politikfelder einsetzen, desto stärker signalisiert dies, so die Autoren der Studie, "nicht nur der gesamten Regierung und Verwaltung, sondern dem ganzen Land" die Bedeutung des Themas und den anstehenden Handlungsbedarf.
Estland ist weitgehend papierlos
Die Ergebnisse wirken allerdings in weiten Teilen Europas ernüchternd: Technologiethemen, heißt es höflich, werden derzeit noch "mit sehr unterschiedlichen Prioritäten" behandelt. Tatsächlich sind die Unterschiede riesig: Im vergangenen Jahr zum Beispiel investierte Estlands Premierminister Jüri Ratas fünfmal mehr Zeit in die digitale Agenda seines Landes als Sloweniens damaliger Ministerpräsident Marjan Sarec oder sein ungarischer Amtskollege Victor Orbán. In Sachen Digitalisierung hängt Estland selbst die Deutschen ab, obwohl Kanzlerin Angela Merkel in dieser Rangliste sonst gute bis sehr gute Noten bekommt.
In Estland können Bürger alle staatlichen Dienstleistungen längst papierlos und vom eigenen Schreibtisch aus elektronisch abwickeln, von der Gründung eines Startups, über die persönliche Steuererklärung bis hin zum Anspruch auf einen kostenlosen Internetzugang. Andere Staaten, auch Deutschland, hinken da um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher. Während die fünf am höchsten rangierenden Spitzenpolitiker im Jahr 2019 im Schnitt auf 47 Aktivitäten im Zusammenhang mit der Digitalisierung kommen, können die fünf am niedrigsten rangierenden Politiker in der gleichen Zeit im Durchschnitt nur zwölf entsprechende Handlungen vorweisen.
Das "European Center for Digital Competitiveness "wurde an der "ESCP Business School" in Berlin gegründet. Erklärtes Ziel ist es, das Thema digitale Wettbewerbsfähigkeit stärker in die politische und öffentliche Debatte einzubringen.
Die am stärksten digital engagierten Politiker in Europa waren demnach Ratas, Angela Merkel, Emmanuel Macron, Mark Rutte und Xavier Bettel aus Luxemburg, gleichauf mit dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz. Die am wenigsten digital engagierten Führungspersönlichkeiten im Jahr 2019 waren Marjan Sarec (Slowenien), Victor Orbán (Ungarn), Boyko Borisov (Bulgarien), Giuseppe Conte (Italien) und Mateusz Morawiecki, der in Polen die Regierungsgeschäfte führt.
Zudem beklagen die ESCP-Forscher, dass es auch auf europäischer Ebene keinen einheitlichen Ansatz zur Förderung digitaler Technologien gibt. "Angesichts des Ausmaßes der Aufgabenstellung und der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts brauchen wir europäisch einheitliche Prioritäten, um endlich groß angelegte Investitionen in Zukunftstechnologien zu ermöglichen", lautet das Fazit des ersten "Digital Engagement Reports", der künftig jährlich aktualisiert werden soll. "Europa muss jetzt handeln".
Quelle: ntv.de, mmo