Politik

Unruhestiftung oder Strategie? Was hinter den Krim-Angriffen stecken könnte

Satellitenbilder zeigen die zerstörten russischen Flugzeuge auf dem Luftwaffenstützpunkt Saki nach der Explosion im August.

Satellitenbilder zeigen die zerstörten russischen Flugzeuge auf dem Luftwaffenstützpunkt Saki nach der Explosion im August.

(Foto: picture alliance/dpa/Planet Labs PBC/AP)

Auf der Krim gibt es seit Wochen Angriffe und Explosionen. Auf der Halbinsel, wo viele Russen Urlaub machen, schlagen in russischen Militäreinrichtungen Raketen ein. Über die Waffensysteme wird noch spekuliert. Auch darüber, ob die Ukraine dahintersteckt. Immerhin will sie die von Russland annektierte Krim zurückerobern.

Seit Wochen verspricht der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj seinen Landsleuten: Er will die annektierte Halbinsel Krim im Schwarzen Meer zurückholen, zurück zur Ukraine.

Seit nun einem Monat häufen sich Angriffe und Explosionen auf der Krim. Sie gehört völkerrechtlich zur Ukraine, Russland hat sie aber 2014 annektiert. Seitdem rüstet Moskau dort auf, baut seine Militärpräsenz massiv aus. Von der Krim aus hat Russland viele Angriffe auf den Süden der Ukraine geflogen, mit Kampfjets vom Typ Suchoi Su-24 und Mehrzweckkampfflugzeugen vom Typ Suchoi Su-30.

Auf der Luftwaffenbasis Saki im Westen der Krim und auf dem Flugplatz Belbek bei Sewastopol sind Kampfjets stationiert. In Belbek befinden sich noch etwa 32 Flugzeuge, geht aus einem geheimen Papier der NATO hervor. Zehn hat Moskau demnach wegen der Angriffe bereits in Russland in Sicherheit gebracht. Insgesamt wurden laut dem ukrainischen Geheimdienst mindestens 24 Flugzeuge und 14 Hubschrauber innerhalb der Krim oder auf russisches Festland verlegt.

Waffensysteme mit hoher Reichweite

Anfang August hat es auf dem Luftwaffenstützpunkt Saki mehrere große Explosionen gegeben. Riesige, pilzförmige Rauchsäulen waren dabei in der Nähe von Jewpatorija zu sehen. Satellitenbilder zeigen drei etwa gleich große Krater.

Dabei wurden mehrere russische Kampfflugzeuge und eine große Menge Munition zerstört. Wie viele Jets abgebrannt sind, dazu gibt es unterschiedliche Zahlen. Satellitenbilder zeigen mindestens sieben, das britische Verteidigungsministerium berichtete von acht Kampfjets, die Ukraine von zehn. Das Kampfflieger-Geschwader habe etwa die Hälfte der Flugzeuge verloren, berichtet der Militärexperte Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt im Interview mit ntv.de.

Warum es die Explosionen gegeben hat, ist noch nicht klar. Russland sagte, es war ein Unfall. Markus Reisner hält das für wenig plausibel. "Wenn Sie sich das Muster ansehen, so sehen Sie hier vier Einschläge exakt in einem rechtwinkligen L mit nahezu gleichen Abständen zwischen diesen vier Einschlägen. Und das alles fast zeitgleich, was dafür spricht, dass es kein Sabotage-Angriff war." Dahinter steckten weitreichende Waffensysteme, wie bei dem Angriff auf die "Moskwa", so Reisner.

Die "Moskwa" war das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, welches Mitte April versenkt worden war. Die Ukraine gibt an, dafür verantwortlich zu sein.

Rakete aus ukrainischer Produktion?

Bei den Explosionen auf der Krim ist das anders, hier hat Kiew nicht die Verantwortung übernommen. Viele Beobachter glauben aber, dass es ein gezielter ukrainischer Angriff war - wegen der Zahl und der Wucht der Explosionen. Und der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak hat danach diesen Satz getwittert: "Das ist nur der Anfang."

Wie der Angriff genau ausgeführt wurde, ist ein Rätsel. Der Luftwaffenstützpunkt Saki liegt weit außerhalb der Reichweite der modernen Raketen, die westliche Länder bisher in die Ukraine geschickt haben. Die USA sagen, ihre Waffen können es nicht gewesen sein.

Der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations vermutet im Gespräch mit ntv.de, dass die Ukraine eine ballistische Rakete aus eigener Produktion eingesetzt hat: eine Grom 2. Dieses System existiere in der Ukraine seit den frühen 2000er-Jahren unter unterschiedlichen Namen, erläutert Gressel.

Das sind aber nur Indizien. Denn eine unabhängige Untersuchung der Einschlagsorte ist momentan nicht möglich, sagt Markus Reisner. Sowohl die Ukraine als auch Russland ließen sich nicht in die Karten schauen: "Die Russen haben vor Ort aufgrund der Untersuchung der Krater und der forensischen Möglichkeiten schon erkannt, welche Systeme es sind. Aber wenn die Russen sagen, wir wurden angegriffen von dem und dem System, würden sie gleichzeitig zugeben, dass ihre eigene Flugabwehr versagt hat."

Festnahme von Islamisten nur "Ablenkungsmanöver"

Etwa eine Woche nach der großen Explosion im Westen der Krim gab es Mitte August eine weitere. Diesmal in einem Munitionslager der Russen, einem früheren Bauernhof bei Dschankoj. Ein großes Feuer und eine dicke schwarze Rauchwolke waren auf Videos in den sozialen Netzwerken zu sehen.

Russland sprach von Sabotage. Der russische Geheimdienst FSB nahm in Dschankoj sechs Männer der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir fest. Das schätzt Politik-Experte Stefan Meister im Interview mit ntv.de aber nur als Ablenkungsmanöver ein, um Kiew nicht zur Verantwortung ziehen zu müssen.

Die Ukraine hält sich bisher bedeckt. Beobachter sehen die Ukraine als Verursacher. Der Angriff zeige, dass die Krim alles andere als sicher ist, so die Einschätzung von ntv-Reporter Rainer Munz. "Und das ist natürlich für den Kreml absolut ein Problem. Denn das wurde immer versprochen: Die Krim gehört uns und die Krim ist sicher."

"Russland kommt in Zugzwang"

Möglicherweise will die Ukraine mit den Angriffen auf der Krim die russischen Nachschublinien unterbrechen, schreibt das Institute for the Study of War. Weil von der Krim aus die russische Armee auf dem ukrainischen Festland unterstützt wird. So werden die Truppen am Westufer des Dnipro abgeschnitten. Und die Ukraine könnte irgendwann wieder die Kontrolle über das Westufer übernehmen.

Der Militärexperte Carlo Masala denkt, dass die Ukrainer einfach Chaos unter den russischen Truppen auslösen wollen, was ihnen auch gelinge. Klar ist: Die Angriffe auf der Krim setzten die russische Führung unter Druck. "Sie bestätigen sie bisher nicht, weil sie ihnen peinlich sind", ist Gustav Gressel überzeugt.

Markus Reisner hält es für möglich, dass Russland seine strategischen Luftstreitkräfte einsetzt, um sich an der Ukraine zu rächen. "Damit kommt Russland unter Zugzwang. Es muss natürlich auch gegenüber der eigenen Bevölkerung zeigen können, dass man nicht bereit ist, das zu akzeptieren."

"Psychologischer Effekt nicht zu unterschätzen"

Die Ukraine versucht offenbar auch, Russland mit Angriffen rund um Sewastopol unter Druck zu setzen. Ende Juli war eine Drohne im Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte gelandet. Mitte August hatte die russische Luftabwehr über dem Hauptquartier eine Drohne abgeschossen. Brennende Teile waren im Dach eingeschlagen.

Danach hatte die Flugabwehr rund um Sewastopol noch mehrere "Objekte" abgeschossen. Unter anderem über dem Militärflugplatz Belbek. Auch im Westen der Halbinsel war die Luftabwehr laut der Krim-Regierung im Einsatz.

Damals gab Russland zu, dass die Ukraine für die Angriffe verantwortlich gewesen sei. Aber Moskau sagte auch, um die russische Bevölkerung zu beruhigen: Die Flugobjekte seien klein und könnten kaum schweren Schaden anrichten, die Wirkung sei eher psychologisch.

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Genau darauf komme es an, sagt Militärexperte Markus Reisner. Messbare Effekte hätten die Angriffe auf der Krim nicht. Es geht eher um psychologische Kriegsführung: "Der psychologische Effekt ist deswegen nicht zu unterschätzen, weil durch diese spektakulären Angriffe der westlichen Unterstützung signalisiert wird: Seht her, wir haben durchaus noch Möglichkeiten, die es uns möglich machen, initiativ zu bleiben. Das heißt, es ergibt Sinn, die Ukraine auch noch weiter zu unterstützen."

Und das will der Westen auch tun. Bundeskanzler Olaf Scholz hat der Ukraine vergangene Woche ein großes Waffenpaket versprochen. Mit dabei sind hochmoderne Flugabwehrsysteme, Raketenwerfer, Panzer und Munition. Die wird die ukrainische Armee auch brauchen, um die Krim zurückzuerobern.

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Quelle: ntv.de

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