Streit um AKW-Laufzeiten Gabriel droht mit Karlsruhe
30.08.2010, 10:20 Uhr
Bundeskanzlerin Merkel in der Leitwarte des Atomkraftwerks Lingen.
(Foto: dpa)
Kanzlerin Merkel will die Laufzeiten der Atomkraftwerke um 10 bis 15 Jahre verlängern. Die Opposition wirft ihr Lobby-Politik vor. SPD-Chef Gabriel droht mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, sollten die Länder bei der Entscheidung übergangen werden. Ein Expertengutachten sorgt auch in der Regierung für Missstimmung.
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat nach Bekanntwerden der Atomkraft-Pläne der Bundesregierung mit dem Gang nach Karlsruhe gedroht. Falls der Bundesrat bei der Entscheidung für eine Laufzeitverlängerung umgangen werde, "dann werden wir vor das Bundesverfassungsgericht ziehen", sagte Gabriel im Bayerischen Rundfunk. Er warnte Kanzlerin Angela Merkel davor, die Länderkammer nicht zu beteiligen. "Die Länder müssen die Sicherheit kontrollieren, der Bundesumweltminister hat die Oberaufsicht. Frau Merkel interessiert das alles gar nicht", sagte Gabriel. Das sei "Politik nach Gutsherrenart".
Merkel hatte am Sonntag nach der Vorlage eines Expertengutachtens gesagt, sie halte eine Laufzeit-Verlängerung um 10 bis 15 Jahre für "fachlich vernünftig". Das Gutachten habe ergeben, dass eine Verlängerung im zweistelligen Bereich notwendig sei. Hier seien die besten Ergebnisse bei Versorgungssicherheit, Strompreis und CO2-Verringerung zu erwarten.
Der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Bareiß, sagte dagegen dem SWR, er halte einen Verlängerung der Laufzeiten um bis zu 15 Jahre für "sinnvoll". Mit einem Zeitkorridor von 10 bis 15 Jahren könne die CDU in der innerparteilichen Debatte über dieses Thema "jedem ein Stück weit entgegenkommen". Der CDU-Politiker verwies darauf, dass es neben dem Votum von Parteikollege und Umweltminister Norbert Röttgen für relativ kurze Laufzeiten in der Union auch Stimmen für eine Verlängerung von 25 bis 28 Jahren gebe. Auf eine genaue Jahreszahl wollte sich Bareiß nicht festlegen. Sowohl 10 als auch 15 Jahre seien "realistisch".
Gewinnabschöpfung für erneuerbare Energien
Im Zentrum der Kritik der Opposition steht das Gutachten, auf dessen Basis die Regierung die Laufzeiten verlängern will. Es empfiehlt laut Berichten zwischen 12 und 20 Jahren längere Laufzeiten. Der erste Überblick über die Szenarien zeige: "Sowohl was die Versorgungssicherheit, den Strompreis als auch das Erreichen der Klimaziele anbelangt, ist die Kernenergie als Brückentechnologie wünschenswert", sagte Merkel.
Merkel machte zudem deutlich, dass die Gewinnabschöpfung bei längeren Atomlaufzeiten in hohem Maße auch der Förderung von erneuerbaren Energien zugutekommen soll. "Einen solchen Beitrag sollte und muss es nach meiner Überzeugung geben", sagte sie in der ARD. Die Steuer soll pro Jahr 2,3 Milliarden Euro bringen und vor allem zur Haushaltssanierung verwendet werden. Laufzeit und Ausgestaltung der Steuer seien noch offen - ebenso wie der Beitrag bei längeren Laufzeiten, der nicht in Form einer weiteren Abgabe kommen soll.
Die Linke wirft der Kanzlerin vor, das Ergebnis habe schon vorher festgestanden, deshalb soll der Bundesrechnungshof die Rechtmäßigkeit des mit Steuergeldern finanzierten Gutachtens prüfen. "Für die Arbeitnehmer gibt es Maßhalteappelle, für Atomkonzerne Profitgeschenke", kritisierte Parteichefin Gesine Lötzsch. Die Opposition kritisiert zudem, dass ein am Gutachten beteiligtes Institut mit Millionensummen von den Energiekonzernen RWE und Eon unterstützt wird.
Stromimport oder Überschuss?
Die Diskussion um das Energiegutachten über die Auswirkungen längerer Atomlaufzeiten hat am Wochenende auch für Missstimmungen in der Regierung gesorgt. Das Umweltministerium war überrascht über die rasche Interpretation von FDP-Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der aus dem Gutachten ein klares Votum für "eine klar zweistellige Verlängerung" herauslas.
Die Zusammenfassung der Gutachter war zudem aus Sicht von CDU-Bundesumweltminister Norbert Röttgen unannehmbar, berichtete das "Handelsblatt". Diese kämen zu dem Ergebnis, dass bei einem frühzeitigen Aus für die Kernenergie in Deutschland der Import von Strom aus ausländischen Kernkraftwerken stark an Bedeutung gewinnen würde. Vertreter der erneuerbaren Energie-Branche verweisen darauf, dass es bereits heute - trotz des Stillstands mehrerer AKWs - teilweise deutliche Stromüberschüsse in Deutschland gebe.
Aus Röttgens Sicht liefere der Hinweis auf die wachsende Bedeutung von Atomstromimporten aus dem Ausland den Befürwortern einer möglichst umfassenden Laufzeitverlängerung neue Argumente, hieß es in dem Bericht. Zudem gab es Diskussionen über einen Passus, der die Erreichung von Klimaschutzzielen nur bei einem international verbindlichen Klimaabkommen als realistisch ansieht. Dies ist aber derzeit in weiter Ferne, weshalb Röttgen im Notfall für nationale Alleingänge beim Klimaschutz eintritt. Eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums sagte, sie könne Missstimmungen zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium nicht bestätigen. Die intensiven Gespräche seien in guter Atmosphäre verlaufen.
10 bis 15 Jahre längere Laufzeiten würden bedeuten, dass es bis mindestens 2035 Atomstrom geben würde. Vor rund zehn Jahren hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen. Durch Stillstand und Drosselung der Leistung würde gemäß der damals vereinbarten Reststrommengen der letzte Meiler etwa 2025 vom Netz gehen. Eigentlich war das Jahr 2022 als Enddatum anvisiert worden.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP