Politik

Stadt Narva an russischer Grenze Hier sitzt die Angst vor Moskaus Invasion in die EU tief

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Die sogenannte Freundschaftsbrücke, die die estnische Stadt Narva am linken Ufer mit der russischen Stadt Iwangorod verbindet, wird unter anderem von der EU-Grenzschutzagentur Frontex überwacht.

Die sogenannte Freundschaftsbrücke, die die estnische Stadt Narva am linken Ufer mit der russischen Stadt Iwangorod verbindet, wird unter anderem von der EU-Grenzschutzagentur Frontex überwacht.

(Foto: IMAGO/Design Pics)

Estland investiert viel mehr als andere EU-Staaten in Verteidigung, weil es einen russischen Angriff auf sein Territorium fürchtet. Die Bedrohung, die von dem brutalen Nachbarstaat ausgeht, ist nirgendwo im Land so spürbar wie in der Stadt Narva direkt an der russischen Grenze.

Russland ist zum Greifen nah in der estnischen Grenzstadt Narva, am Ufer des Flusses, dem sie ihren Namen verdankt. Die Narvabrücke, von den Einwohnern noch immer Freundschaftsbrücke genannt, verbindet das Territorium des russischen Aggressors, der mit seinem Überfall auf die Ukraine in Europa eine neue Realität schaffen will, mit Estland, wo die Erinnerung an gleich zwei völkerrechtswidrige Eingliederungen in die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg noch frisch ist.

Katri Raik, frühere Bürgermeisterin Narvas, darf nicht mehr nach Russland einreisen.

Katri Raik, frühere Bürgermeisterin Narvas, darf nicht mehr nach Russland einreisen.

(Foto: Lea Verstl)

Katri Raik ist mit ihrem Auto früher oft über die Brücke nach Russland gefahren. Die ehemalige Bürgermeisterin von Narva steht an der Uferpromenade, wo sie auf die Festung Iwangorod am gegenüberliegenden Flussufer blickt. "Ich war gerne dort, um mein Lieblingsrestaurant zu besuchen. Und die ein oder andere Flasche billigen Wodka aus Russland habe ich gerne mitgenommen", sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Solche Spritztouren sind heute undenkbar. Russland verbietet Raik die Einreise. Auch die Promenade, auf der sie in Erinnerungen schwelgt, könnte heute nicht mehr gebaut werden. Sie entstand 2014 als partnerschaftliches Projekt zwischen Russland und Estland, der Bau wurde mit EU-Geldern gefördert. Der größte Teil verläuft in Narva, einige Hundert Meter in Iwangorod. Nun wird die Brücke mit Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur Frontex bewacht. Auf dem Fluss patrouillieren russische Grenzschutzboote.

Kallas fordert von EU-Partnern mehr Investitionen in Verteidigung

Die Angst Estlands und seiner Regierung vor einem russischen Angriff ist wohl nirgendwo so spürbar wie in Narva, einer Stadt mit 57.000 Einwohnern, die zu 98 Prozent aus Russland stammen. Die Russen wurden 1944, während der Russifizierung seit der zweiten sowjetischen Besetzung, dort angesiedelt. Mit gut 22 Prozent ist Estland der EU-Staat mit dem höchsten Bevölkerungsanteil ethnischer Russen.

Jetzt rüstet Estland auf, um sich für den schlimmsten Fall zu wappnen. Mehr als drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts investiert das Land in seine Verteidigung, damit übersteigt es die Zwei-Prozent-Vorgabe der NATO. Premierministerin Kaja Kallas fordert von den Bündnispartnern in Europa mehr Engagement für ihr Wehrbudget. "Ich bin überrascht, dass der NATO-Durchschnitt trotz des Krieges in der Nachbarschaft bei 1,6 Prozent liegt", sagt sie.

Die Regierung finanziert ihre Investitionen unter anderem über Steuererhöhungen. So soll nicht nur eine Kfz-Steuer eingeführt werden, sondern auch die Einkommens- und Mehrwertsteuer von je 20 auf 22 Prozent steigen. Die Pläne sorgen für Unmut in der estnischen Bevölkerung, da von Steuererhöhungen im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen am 5. März noch keine Rede war. Das wirkt sich auch auf Kallas' Popularität aus. Ihre Zustimmungswerte sanken laut Umfragen zuletzt auf 21 Prozent. "Natürlich würde ich das Geld gerne für andere Dinge als Verteidigung ausgeben, aber ohne Sicherheit haben wir nichts", sagt Kallas.

"Müssen Rüstungsindustrie in Europa hochfahren"

Die Folgen des Ukraine-Kriegs beeinflussten auch Raiks Karriere. Sie sorgten dafür, dass sie im September dieses Jahres ihr Amt als Bürgermeisterin von Narva aufgeben musste. Nachdem die Regierung in Tallinn grünes Licht für die Entfernung sowjetischer Denkmäler gegeben hatte, wurde im Sommer ein Sowjet-Panzer nahe der Grenzstadt demontiert, um ihn in ein Museum zu verlegen. Zudem beschloss der Stadtrat, vier Straßennamen mit Bezug zur Sowjetunion zu ersetzen. Beides sorgte für Empörung in Teilen der russischstämmigen Bevölkerung Narvas. "Mir wurde daran die Schuld gegeben", sagt Raik, die selbst ethnische Russin ist. In der Kommune gründete sich eine "Narva Gruppe", die ein Misstrauensvotum gegen sie anstrengte - mit Erfolg. 19 der 31 Stadträte setzten Raik am 16. September als Bürgermeisterin ab.

Die Wut gegen sie wurde so groß, dass sie zeitweilig um ihr Leben fürchtete. Offene Drohungen führten dazu, dass sie sich zwei Wochen lang unter Polizeischutz begeben musste. Auf ihr Haus wurden die Worte "Geh weg" geschmiert. "Wenn ich auf der Straße jemandem 'Hallo' gesagt habe, bekam ich als Antwort 'Auf Wiedersehen'", erzählt sie. Nun scheint Raik mit den aufwühlenden Ereignissen ihren Frieden gefunden zu haben. "Narva kann man nur mit dem Herzen verstehen, nicht mit dem Kopf", sagt sie lächelnd.

Zwar befürwortet ein Teil der ethnischen Russen den russischen Angriffskrieg, doch im Land ist die Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine relativ hoch. Mit 62.000 Ukrainern hat Estland, umgerechnet auf seine Einwohnerzahl, seit Kriegsbeginn so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderer EU-Staat. Auch die massiven Investitionen in die Verteidigung des Landes erfahren Zuspruch in der Bevölkerung, obwohl sie sich offenbar eine andere Finanzierung wünscht.

"Am Fluss verläuft die Grenze zwischen Gut und Böse"

Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur ist davon überzeugt, noch mehr tun zu müssen, wobei er weitere Unterstützung von den europäischen Verbündeten fordert. "Wir müssen unsere Rüstungsindustrie in der EU hochfahren", sagt Pevkur. "Letztes Jahr betrug die Produktionskapazität in Europa etwa 600.000 Drohnen pro Jahr. Das ist die Menge, die Russland in zehn Tagen in der Ukraine abfeuerte." Auch das angestrebte Ziel, die Produktion in den kommenden Jahren zu verdoppeln, sei noch zu niedrig gesteckt. Weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie der EU-Staaten seien nötig, so Pevkur.

An der Uferpromenade in Narva steht Raik zwischen 27 in den Boden eingelassenen, runden Steinen, in die jeweils ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union sowie das Jahr seines Beitritts eingraviert ist. In die Mitte dieser Steine sind Lampen montiert, die nachts den Weg beleuchten. "Der russische Teil der Promenade bleibt aber dunkel", sagt Raik. "Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges ist vieles hier Schwarz und Weiß geworden. An diesem Fluss verläuft die Grenze zwischen Gut und Böse." In ihrer Amtszeit als Innenministerin zwischen 2018 und 2019 habe sie auf Pressekonferenzen stets beteuert, Estland müsse sich nicht vor einer russischen Attacke fürchten, weil es sowohl Mitglied der EU als auch der NATO ist, erzählt sie. Heute sagt sie das nicht mehr.

Quelle: ntv.de

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