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Russe verrät Überlebenstricks IT-Spezialist versteckt sich vor Mobilisierung im Wald

Die Antenne an einem Baum sorgt für einigermaßen gute Internetverbindung in Kalinins "Büro".

Die Antenne an einem Baum sorgt für einigermaßen gute Internetverbindung in Kalinins "Büro".

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Angst vor dem Kriegsdienst treibt viele Russen ins Ausland. Für Adam Kalinin, einen IT-Spezialisten aus dem Süden Russlands, ist das keine Option. Stattdessen flieht er in den Wald. Im Interview mit ntv.de erzählt er von seinem Leben im Zelt - und wie man in der Wildnis ein Büro mit Internetzugang einrichtet.

Als der russische Präsident Wladimir Putin am 21. September die Mobilisierung ausruft, verlassen Hunderttausende Männer Hals über Kopf das Land. Für Adam Kalinin kommt die Auswanderung nicht in Frage, genauso wie der Einzug in den Krieg. Der junge IT-Spezialist entscheidet sich für einen unkonventionellen Weg - er packt seine Sachen und flieht in einen Wald. In der südrussischen Wildnis, weit weg von Einberufungsbehörden und Kasernen, aber auch von Familie und Freunden, lebt und arbeitet er seit nunmehr einem Monat.

"Ich bin gegen die Mobilisierung und gegen den Krieg überhaupt", erklärt der Backend-Entwickler in einem Telefonat mit ntv.de seine Motivation für die Flucht in die Wildnis. Kalinin hatte an den Protesten gegen Russlands Überfall auf die Ukraine teilgenommen und bekam aus diesem Grund bereits vor der Mobilisierung Ärger mit den Behörden. Mehr dazu kann er im Interview nicht sagen, genauso wie er seinen echten Namen und sein genaues Alter nicht nennen will. "Zwischen 30 und 40" Jahre alt sei er, verrät der Kriegsgegner lediglich.

Kalinins Arbeitsplatz mit Solarpanelen im Hintergrund.

Kalinins Arbeitsplatz mit Solarpanelen im Hintergrund.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Eine Vorladung der Rekrutierungsbehörde erhielt er noch nicht, entschied aber, nicht erst darauf zu warten. "Es stellte sich heraus, dass es keine 'Teilmobilmachung' ist, sondern eine allgemeine Mobilisierung. Es gibt keine Regeln. Sie nehmen Menschen mit, die noch nie gedient haben, oder die krank sind. Das ist ein Skandal", erläutert Kalinin. In seiner Stadt habe er ständig Angst gehabt, "dass ich bei einem Spaziergang von einem Polizisten gepackt und ins Auto gezerrt werde."

Solarmodule liefern Strom

Seine "Relocation", wie er den Umzug in den Wald nennt, war nicht unüberlegt. Kalinin ist ein erfahrener Wildcamper, hatte deswegen bereits viel Ausrüstung gehabt. "In den letzten fünf Jahren habe ich mir immer wieder neue Sachen gekauft und so mein Outdoor-Set nach und nach erweitert: Einen Rucksack, einen Schlafsack und ein Zelt hatte ich schon. Aber auch eine Kettensäge, einen Router und eine Antenne, die ich für den Internetzugang benutze." Das Wichtigste, was er noch kaufen musste, waren laut Kalinin Solarmodule mit Batterie. Damit kann er im Wald Strom erzeugen.

Kalinin zeigt Teile seines mobilen Energiesystems: Ein Controller und ein Solarkonverter.

Kalinin zeigt Teile seines mobilen Energiesystems: Ein Controller und ein Solarkonverter.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

"Die ganze Ausrüstung ist ziemlich teuer. Aber ich habe die Kosten für mein Equipment mit denen für einen Umzug ins Ausland verglichen." In den ersten Wochen der Mobilisierung "kosteten die Flugtickets ins Ausland aufgrund der schockierenden Nachrichten 200 bis 300 Tausend Rubel (umgerechnet ca. 3.200 bis 4.800 Euro) und selbst die waren rar. Hinzu kämen die Kosten für einen Neustart in einem anderen Land", rechnet Kalinin nach.

Kalinin erzählt, er habe sich in erster Linie mental vorbereiten müssen. "Ich musste darüber nachdenken, was ich zuhause zurücklasse, wenn ich in die Wildnis ziehe." Trotz langjähriger Wildcamping-Erfahrung sei er unsicher gewesen, ob er es schaffen werde, nicht ein Wochenende, sondern Wochen oder Monate in der Wildnis zu leben. "Ich wusste nicht, ob es dem Internet klappen wird, ob ich mich einrichten kann. Die Chancen lagen bei 50 zu 50."

Müllcontainer wird zum "Supermarkt"

Nach einer einwöchigen Vorbereitung war es schließlich soweit. Kalinins Frau brachte ihn mit dem Auto in einen Wald, den die beiden bereits aus einem Wanderurlaub kannten. Dort trennten sich ihre Wege. Für die Frau ging es zurück nach Hause, für Kalinin weiter in den dichteren Wald. Seitdem ist ihm nach eigenen Worten kein einziges Mal ein Mensch begegnet.

Feuerplatz im Wohnbereich - Windschutz inklusive.

Feuerplatz im Wohnbereich - Windschutz inklusive.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Gleich nach der Ankunft richtete er unweit der Straße ein Lebensmittellager ein, um die vielen Vorräte nicht bis zum künftigen Zeltstellplatz schleppen zu müssen - eine Stunde Fußweg durch zerklüftetes Terrain. "Ich habe einen großen Müllcontainer gekauft. Darin werden alle Vorräte, die ich mitgenommen habe, aufbewahrt: Konserven, Instant-Nudeln, Trockenfleisch, getrocknetes Gemüse, Tee, Kaffee, Zucker und so weiter." Wenn Lebensmittel im Zelt knapp werden, holt er welche aus dem Container: "Wie im Supermarkt", lacht er. "Ich nehme etwas aus dem Vorrat, packe es in meinen Rucksack und gehe zurück."

Arbeiten? Aus dem Zelt-Office

Im Wald hat Kalinin zwei Zelte aufgestellt. In einem davon wohnt er, das andere ist sein "Büro" - von dort aus arbeitet der Programmierer. Das Arbeitszelt liegt drei Minuten Fußweg von seinem Schlafplatz entfernt. Der Grund, warum er die Räume trennt, ist, dass sein Wohnzelt an einem schönen Platz im Wald steht, "wo es nicht windig ist, wo die Sonne scheint, wo es eine Lichtung gibt und überhaupt alles cool ist. Aber dort gibt es kein Internet", erklärt der Mann in einem Video in seinem Telegram-Kanal. "Dort, wo das Büro ist, ist das Wetter nicht so gut. Wenn der Wind weht, ist es ziemlich unangenehm, dort zu sein, aber es gibt eben Internet." An einem Baum neben dem Zelt ist dort eine Antenne angebracht, die eine recht gute Internetverbindung per Mobilfunk liefert.

So sieht es in Kalinins "Zelt-Office" aus.

So sieht es in Kalinins "Zelt-Office" aus.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

"Die Geschwindigkeit ist mehr oder weniger akzeptabel. Genug, um mit Kollegen zu telefonieren und überhaupt meine Arbeitsaufgaben zu erledigen", sagt Kalinin im Gespräch mit ntv.de, das ebenfalls über Telegram geführt wird. "Manche Dinge brauchen etwas länger, um im Internet herunter- oder hochgeladen zu werden, aber das ist kein Problem."

"Der clevere Förster"

Kalinin arbeitet nach eigenen Worten in einem ziemlich großen IT-Unternehmen. Sein Team ist aber recht klein. Die meisten seiner unmittelbaren Kollegen wissen, dass er im Wald wohnt. Einige folgen seinem Blog bei Telegram. Im Channel "Der clevere Förster" zeigt Kalinin seinen Alltag im Wald. Mit seinen mittlerweile mehr als 20.000 Followern teilt er Fotos und Videos, auf denen er erklärt, wie man mithilfe von Solarmodulen Strom erzeugt oder wie man passende Ausrüstung für ein Leben in der Wildnis aussucht. "Ich habe den Kanal für meine Freunde eingerichtet, damit ich nicht immer die gleichen Bilder an alle weiterleiten muss. Und dann wurde er so beliebt!" Das Blog hilft Kalinin auch dabei, sich nicht einsam zu fühlen. "Ich kommuniziere mit meinen Freunden und Followern und bekomme sehr viele Fragen und Kommentare."

Leckeres Frühstück: Haferflocken mit Kondensmilch und Trockenpflaumen.

Leckeres Frühstück: Haferflocken mit Kondensmilch und Trockenpflaumen.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Zeit für die Kommunikation mit seinen Abonnenten hat Kalinin nicht viel - sein Tag ist streng geregelt. "Ich stehe recht früh auf, so zwischen 6:30 und 7 Uhr, und mache mir ein Frühstück - normalerweise Brei mit Kondensmilch oder Sahne, dazu Trockenpflaumen oder Rosinen." Gekocht wird auf einem kleinen Gasherd, an den eine 18-Liter-Gasflasche angeschlossen ist. "Die für einen Stadtmenschen üblichen Dinge nehmen viel Zeit in Anspruch", erklärt Kalinin. Zum Kochen und Trinken verwendet er Regenwasser, das in Plastikplanen gespeichert wird, die auf dem Boden ausgebreitet sind. Alles, was essbar ist, muss in Kisten und Tüten versteckt sein - "damit Insekten und Tiere es nicht anrühren", erklärt Kalinin. Nach dem Frühstück geht es ins "Büro". "Dort verbringe ich bis auf die Mittagspause praktisch den ganzen Arbeitstag."

Zu Folienkartoffeln gibt es eine frische Gurke - für Kalinin eine Delikatesse.

Zu Folienkartoffeln gibt es eine frische Gurke - für Kalinin eine Delikatesse.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Erst nach dem Feierabend kann sich der ITler seinem Blog widmen - aber auch den Ausbauplänen. "Im Großen und Ganzen bewege ich mich in Richtung eines Häuschens, ich möchte etwas Festeres als ein Zelt haben. Deshalb sammle ich im Moment Holz, das sich für den Bau eignet, und bearbeite es." Das macht Kalinin meist im Dunkeln, die Sonne geht bereits recht früh unter. Doch zögern kann er nicht, die Zeit drängt, der Winter naht. "Ich hoffe, dass ich vor der großen Kälte ein geschütztes Häuschen habe, vielleicht sogar mit einer Art Dusche oder Sauna."

Feuchttücher ersetzen Dusche

Eine warme Dusche vermisst Kalinin nach eigenen Worten sehr. "Zur Zeit muss ich mich mit Feuchttüchern begnügen", erklärt er. Ab und zu erhitzt er aber in einem Topf ein wenig Wasser, um sich damit zu waschen. "Das ist meine Mini-Dusche", lacht Kalinin.

Die "Walddusche": Feuchttücher.

Die "Walddusche": Feuchttücher.

(Foto: Telegram / @force_resistance)

Doch während Adam Kalinin die Dusche - genauso wie frisches Obst und Gemüse - als verzichtbaren Luxus ansieht, ist die Nähe seiner Familie das, was ihm am meisten fehlt. Seit dem Umzug in den Wald hat er seine Frau nur bei Videoanrufen gesehen. "Meine Frau unterstützt mich sehr, ohne ihre Hilfe hätte ich es hier nicht ausgehalten. Ich will sie so sehr wiedertreffen", schwärmt der Einsiedler. "Oder dass sie zu mir zieht! Ich glaube aber nicht, dass es realistisch ist", lacht er.

"Den Winter werde ich hier verbringen"

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Bis Kalinin seine Frau und Freunde wieder in die Arme schließen kann, muss er sich gedulden. Auch wenn das Leben im Wald so manchem idyllisch zu sein scheinen könnte, will der Mann sobald wie möglich zurück in die Stadt. "Aber der Nachrichtenlage nach zu urteilen, werde ich den Winter hier verbringen", sagt Kalinin.

Hier im Wald hat er keine Angst, von den Behörden aufgespürt zu werden. "An einer gezielten Fahndung nach mir ist höchstwahrscheinlich niemand interessiert", ist sich der Kriegsgegner sicher. "Es wäre zu aufwendig, selbst wenn sie wüssten, wo sie suchen müssen. Ich bin ja kein internationaler Verbrecher, für die Suche nach dem der Staatsapparat seine Ressourcen aufwenden würde." Bis der Krieg oder zumindest die Mobilisierung vorbei ist, bleibt Adam Kalinin also im Wald: "Die Wahrscheinlichkeit, jemandem, wer für den Staat arbeitet, über den Weg zu laufen, ist hier deutlich geringer."

Quelle: ntv.de

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