Politik

"Hier fallen wir weniger auf" Immer mehr Russen fliehen nach Istanbul

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"Für uns geht es jetzt erst einmal ums Überleben", sagt eine Russin in Istanbul. "Die türkischen Probleme sind nicht unsere, wir mischen uns nicht ein, dadurch sind wir für die türkische Polizei unsichtbar."

(Foto: AP)

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs verlassen zahlreiche Russen ihre Heimat. Viele flüchten in die Türkei, Istanbul wird zum Exil regierungskritischer Russen. Wie kommen die Putin-Gegner in der türkischen Metropole klar? Ein Besuch.

Als Irina Gaisina sich entschließt, ihre Heimat zu verlassen, ist es für ihre Freunde bereits zu spät. "Die Polizei suchte erst nach Vadim, dann auch nach Olga", sagt sie. "Wegen Terrorvorwürfen gab es auch Razzien in ihren Wohnungen, spätestens da wurde mir klar: Ich bin die Nächste, wenn ich Russland nicht sofort verlasse. Also packte ich meine Sachen und buchte einen Flug nach Istanbul."

Gaisina zieht an ihrer Zigarette, während sie an die Ereignisse der letzten Monate zurückdenkt. Die Angst, in einem russischen Gefängnis zu landen, ist weg. Sie sitzt an einem sonnigen Tag auf der Terrasse eines Cafés auf Büyükada, einer zu Istanbul gehörenden Insel im Marmarameer. Zwischen ihr und ihrer Heimatstadt Sankt Petersburg liegen gut 2200 Kilometer.

Die 39-Jährige ist eine von Tausenden Russinnen und Russen, die in den vergangenen Monaten ihre Heimat verlassen haben, um sich ein neues Leben in der türkischen Metropole aufzubauen. Insgesamt haben bereits Hunderttausende Russen das Weite gesucht, weil es für sie im Land zu gefährlich wurde oder weil sie schlicht keine Hoffnung mehr auf eine Demokratisierung Russlands haben, seit Putin im Februar den Befehl zum Angriff gegen die Ukraine erteilt hat.

"Wir mischen uns in die türkischen Probleme nicht ein"

Den Türken waren Russen bisher eher als Urlauber bekannt - nach Istanbul kamen sie wegen der Einkaufsmöglichkeiten, an die türkische Riviera wegen der Strände. Gaisina kam, weil sie für die Türkei kein Visum braucht, anders als für die Einreise nach Deutschland oder in andere Staaten im Schengenraum. "Armenien, Georgien oder Usbekistan wären auch eine Möglichkeit gewesen. Dort hätte ich sogar weniger Probleme mit der Sprache als hier, aber ich glaube, es werden immer mehr Russen, die ins Exil flüchten, irgendwann kippt die Stimmung in diesen Ländern", sagt Gaisina. In der Türkei lebten viele Millionen Menschen, es gebe viele Touristen, "hier fallen wir weniger auf".

Die studierte Psychologin war 2019 als Bezirksabgeordnete für die oppositionelle Jabloko-Partei in Sankt Petersburg tätig. Nach Kriegsbeginn befürchtete sie eingesperrt zu werden, da sie an Straßenprotesten gegen die Regierung teilgenommen und Anti-Kriegs-Petitionen unterschrieben hatte. Ihr Mann und ihre drei Kinder sind ebenfalls in die Türkei gekommen, seither lebt die Familie zu fünft in einem Apartment auf der asiatischen Seite von Istanbul. "Ich bin gerade leider arbeitslos, ich muss mich auch um unsere Kinder kümmern. Insgesamt haben wir aber noch Glück. Mein Mann ist App-Entwickler und kann von überall arbeiten, solange er einen Laptop hat."

Dass russische Regierungskritiker ausgerechnet Schutz in der Türkei suchen, empfindet Gaisina zwar als paradox, schließlich führt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Türkei seit Jahren mit harter Hand, Menschenrechtler und Oppositionelle im Land stehen unter Dauerdruck. "Aber für uns geht es jetzt erst einmal ums Überleben. Die türkischen Probleme sind nicht unsere, wir mischen uns nicht ein, dadurch sind wir für die türkische Polizei unsichtbar", sagt sie.

Drei Millionen Russen kamen

Während EU-Staaten zuletzt die Einreise für Russen eher erschwerten, können russische Neuankömmlinge in Istanbul als Touristen ohne größere Probleme bis zu 90 Tage bleiben. Wer einen gültigen Mietvertrag vorweist, hat sogar ein ganzes Jahr Ruhe vor den türkischen Behörden und die Frist lässt sich noch verlängern. Seit Putin die Mobilmachung von Reservisten ankündigte, kommen zudem Russen, die möglicherweise den Ukraine-Krieg sogar befürworten, aber nicht selbst an die Front geschickt werden wollen. Dieser Exodus trieb zeitweise die Preise für Flugtickets zwischen Moskau und Istanbul enorm in die Höhe.

Zwischen Januar und August reisten bereits drei Millionen Russen als Touristen in die Türkei - wie viele von ihnen dauerhaft in der Türkei bleiben wollen, ist unklar. Anders als in Armenien, Kasachstan oder Georgien machen die türkischen Behörden keine weiteren Angaben darüber. Erdogan positioniert sich derweil weiterhin als Vermittler zwischen Kiew und dem Kreml.

Dass Istanbul für viele Russen längst zur neuen Heimat geworden ist, merkt Eva Rapoport täglich. Sie sitzt an einem Nachmittag im Atatürk Kulturzentrum, ein Neubau direkt am Taksim-Platz. Immer wieder ploppen Chat-Nachrichten auf ihrem Laptop auf. Sie ist als Koordinatorin für die Istanbuler Zweigstelle der "Arche" tätig, ein Netzwerk, das russischen Neuankömmlingen Starthilfe gibt. "Wir helfen bei Sprachproblemen, bei Behördengängen und bieten auch psychische Beratungen an", sagt Rapoport. "Helfen tun wir vor allem aber auch, indem wir den Menschen für zwei Wochen kostenlos ein Bett in einer Gemeinschaftswohnung zur Verfügung stellen."

Auch Reiche brauchen Unterstützung

Die 38-Jährige unterrichtete noch vor einigen Jahren Philosophie an der Wirtschaftshochschule Moskau, inzwischen gehöre sie einem Team mit ein paar Dutzend Unterstützern an. Das russische Netzwerk organisiert sich über eine Telegram-Gruppe. In der wird zum Beispiel erklärt, wo und wie eine türkische Bankkarte beantragt werden kann. Nach eigenen Angaben half das Netzwerk bisher einigen Hundert Russinnen und Russen mit einem Schlafplatz in einer der vier gemieteten Gemeinschaftswohnung in Istanbul. Die Zweigstellen in Armenien und Kasachstan eingerechnet, stellt die "Arche" etwa 200 Betten kurzfristig zur Verfügung.

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Eva Rapoport arbeitet für die "Arche", ein Netzwerk, das russischen Neuankömmlingen Starthilfe gibt.

(Foto: AP)

Finanziert wird das Netzwerk aus Spenden. Unter den Geldgebern ist auch der bekannte Putin-Gegner und Ex-Oligarch Michail Chodorkowski. "Die Presse erwähnt gerne seinen Namen, dabei hat er nur am Anfang einmal Geld gespendet. Ansonsten hat er nichts mit uns zu tun. Wir finanzieren uns ausschließlich durch Crowdfunding", sagt Rapoport.

Als ein Mann mit sportlicher Figur im Atatürk Kulturzentrum die Treppen hochkommt, erkennt sie ihn wieder, man begrüßt sich, kurz wird gequatscht. Der vermutlich Anfang 30 Jahre alte Mann sagt auf Nachfrage, dass er vor mehr als zehn Jahren Spitzenathlet in Russland gewesen sei. Nun sei er dabei nach Istanbul zu ziehen, um ein "Hub für russische Start-ups" aufzubauen - Worte wie Krieg, Flucht oder Angst fallen nicht. Als er weg ist, merkt Rapoport an: "Auch um solche Menschen kümmern wir uns hier. Er hat offensichtlich keine Geldsorgen, aber er braucht eine Community, Leute, mit denen er hier reden kann."

Russen stürzen sich auf türkische Immobilien

Wer das nötige Kleingeld in die Türkei mitbringt, kann sich den Start zumindest erleichtern. Ausländer, die in der Türkei Immobilien mit einem Mindestwert von 250.000 Dollar kaufen und diese dann auch für mindestens drei Jahre halten, können die türkische Staatsbürgerschaft bekommen. Auch ein türkisches Bankkonto mit 500.000 Dollar Kapital ist ein Türöffner für die Staatsangehörigkeit. Die Regierung von Präsident Erdogan erhofft sich damit, frische Devisen ins Land zu bekommen und so der extremen Inflation der Nationalwährung entgegenzuwirken - im September lag die Teuerungsrate bei 83 Prozent, so viel wie seit mehr als 20 Jahren.

Vor allem Russen stürzten sich seit Kriegsbeginn auf türkische Immobilien. Im Juni wurden landesweit 1887 Immobilien an russische Staatsbürger verkauft - so viel wie an keine an ausländische Gruppe. Verglichen mit dem Vorjahresmonat ist das ein Anstieg um 529 Prozent. Auch im August führten laut dem türkischen Statistikamt Tüik Russen mit 1238 Immobilienkäufen die Liste der ausländischen Käufer an, gefolgt von Iranern und Irakern. Die mit Abstand meisten Häuser und Wohnungen wurden in Istanbul und Antalya verkauft. Wie viele der Käufer am Ende auch die türkische Staatsbürgerschaft beantragten, ist unklar.

"Istanbul ist jetzt voll mit Russen"

Dabei ist gerade nicht der beste Zeitpunkt, um als Ausländer in der Türkei nach Apartments zu suchen. Der ohnehin angespannte Wohnungsmarkt wurde zuletzt durch den Zuzug vieler Syrer, Afghanen und Iraner in der 16-Millionen-Metropole Istanbul weiter strapaziert. Und die türkische Opposition wird acht Monate vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nicht müde, auf diesem Thema herumzureiten. Die Türkei nahm rund 3,7 Millionen vor dem Bürgerkrieg flüchtende Syrer auf, mehr als jedes andere Land. Die Türken zeigten sich anfangs erstaunlich offen gegenüber den Flüchtlingen und nickten Erdogans Flüchtlingspolitik lange ab. Inmitten einer Währungs- und Energiekrise ist die Stimmung aber auch unter seinen Anhängern gekippt, es gab Angriffe auf Syrer und Afghanen. Der in einem Umfragetief steckende Präsident kündigte zuletzt an, viele Syrer wieder zurückschicken zu wollen.

Inmitten dieses Spannungsfelds kommen nun die Russen. Rapoport zufolge gibt es kaum noch freie und bezahlbare Wohnungen in beliebten Istanbuler Gegenden wie Beyoglu, Besiktas oder Kadiköy. Wer eine Wohnung braucht, solle besser an den Stadtrand ziehen. Generell seien Türken den Russen gegenüber aber offen. "Ich sage das nicht gerne, aber auch der Istanbuler Wohnungsmarkt ist nicht frei von Rassismus. Uns ist schon aufgefallen, dass Vermieter lieber an Russen vermieten als an Syrer oder Afrikaner." Sie betont, dass die "Arche" bei der Suche helfe, doch wer Hilfe wolle, müsse klar gegen den Ukraine-Krieg sein.

Irina Gaisina schließt nicht aus, irgendwann nach Deutschland weiterzuziehen. Noch gefalle der Bosporus den Kindern aber, die zwei älteren Töchter kriegen wieder Schulunterricht, wenn auch nur online. "Was das Essen angeht, müssen sich meine Kinder noch daran gewöhnen, dass es in der türkischen Küche kein Schweinefleisch gibt und das Wasser nicht sprudelt", sagt sie schmunzelnd. Ein paar Wochen später zeigt sie sich in einer Telegram-Nachricht jedoch wieder ernst. Der Verlauf des Krieges wirke sich weiter aus, schreibt sie. "Istanbul ist jetzt voll mit Russen, die vor der Mobilmachung flüchten. Für diese Menschen ist es schwierig, eine Wohnung in Istanbul zu bekommen. Einige sprechen keine Fremdsprache und haben nur wenig Geld."

Quelle: ntv.de

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