Politik

Die Mittelmacht führt wiederIn Berlin wird derzeit deutlich, was Merz verändert hat

15.12.2025, 19:03 Uhr b58b01e6-b3b2-4108-ace9-39b8c6dbd390Von Hubertus Volmer
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Bundeskanzler Merz steht am Sonntag in seinem Büro im Kanzleramt und telefoniert. (Foto: picture alliance/dpa)

Die Gespräche in Berlin zeigen: Bundeskanzler Merz hat seine Ankündigung wahr gemacht, Deutschland zu einer führenden Mittelmacht zu entwickeln. Am Donnerstag zeigt sich, wie groß sein Einfluss ist.

Aus der US-Delegation verlautete zwar bereits, dass 90 Prozent der Streitfragen gelöst sind. Aber noch ist unklar, was für ein Ergebnis die Verhandlungen in Berlin haben werden. Ein Gewinner steht indessen fest: Bundeskanzler Friedrich Merz, Gastgeber und Initiator der Gespräche zwischen der Ukraine und den USA.

Merz hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er bereit ist, "Führungsverantwortung in Europa" zu übernehmen. "Wir müssen von einer schlafenden Mittelmacht zu einer führenden Mittelmacht werden", sagte der CDU-Chef im Januar, damals noch als Oppositionsführer, in einer außenpolitischen Grundsatzrede in Berlin.

Das ist ihm gelungen. Allein die Tatsache, dass der US-Sonderbeauftragte Steve Witkoff und Präsidentenschwiegersohn Jared Kushner im Kanzleramt mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verhandeln, zeigt die neue Bedeutung Deutschlands.

Die Verschiebungen sind schwindelerregend

Merz' Vorgänger Olaf Scholz war in der Ukraine-Politik stets den USA gefolgt: Bestimmte Waffen wurden immer nur dann geliefert, wenn auch die USA entsprechende Systeme bereitstellten. Aus Merz' Sicht war das immer zu wenig. Aber selbst, wenn er es gewollt hätte - Merz konnte diesen Kurs nicht fortsetzen. Er hat es nicht mehr mit Joe Biden zu tun, sondern mit Donald Trump.

Am vergangenen Samstag machte der Kanzler deutlich, wie drastisch sich die transatlantischen Beziehungen verändert haben und weiter verändern. Derzeit finde "eine geradezu tektonische Verschiebung der Machtzentren auf der Welt" statt, sagte er auf dem CSU-Parteitag in München. Später werde niemand fragen, "ob wir die Haltelinie der deutschen Rentenversicherung ein Jahr länger oder ein Jahr weniger gehalten haben". Gefragt werde dann, "ob wir den maximalen Beitrag" zum Erhalt von Freiheit, Frieden, Rechtstaat und Demokratie geleistet hätten.

Die tektonischen Verschiebungen laufen seit Jahren, haben sich aber in den vergangenen Monaten geradezu eruptiv beschleunigt. Als Merz im Januar den Anspruch erhob, Deutschland zu einer führenden Mittelmacht zu entwickeln, lag der Beginn von Trumps zweiter Amtszeit gerade drei Tage zurück. Allein die Veränderungen seither sind schwindelerregend - vom Auftritt von US-Vizepräsident JD Vance im Februar bis zur Veröffentlichung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie durch das Weiße Haus am 4. Dezember.

Ohne Führung keine Nato

Ausdruck des neuen deutschen Führungsanspruchs waren zunächst Symbole, etwa die Reise mit den Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Polen und Großbritannien nach Kiew, wenige Tage nach seiner Wahl zum Bundeskanzler. Aber es waren auch sehr handfeste Entscheidungen darunter: Ohne die umstrittene Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben, beschlossen noch vom alten Bundestag, wären andere europäische Länder nicht dem deutschen Beispiel gefolgt, hätten ihre Verteidigungsetats nicht erhöht, argumentiert Merz. Innenpolitisch habe die Grundgesetzänderung seine Glaubwürdigkeit beschädigt, räumte Merz ein. Aber ohne sie wäre der Jubiläumsgipfel von Den Haag im Juni "wahrscheinlich der letzte Nato-Gipfel in dieser Zusammensetzung" gewesen.

Merz' Ziel ist, den Schaden der tektonischen Verschiebungen so gering wie möglich zu halten, mehr kann er als Regierungschef einer führenden Mittelmacht nicht erreichen. Das gilt sowohl für die Ukraine als auch für die Nato. Die Ukraine will Merz "so lange wie nötig" unterstützen, das westliche Bündnis "so lange wie möglich" erhalten.

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Beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum nahm Merz Selenskyj demonstrativ in den Arm. (Foto: picture alliance/dpa)

Für beide Ziele sind die 48 Stunden von Berlin von größter Bedeutung. Ort und Zeitpunkt machen deutlich, dass der russische Spott nur billige Propaganda war: Merz sei "nicht mal im Spiel" hatte Putins Chefunterhändler Kirill Dmitrijew vor zehn Tagen auf X geschrieben. Das hätte Russland gerne: Verhandlungen mit den USA über Europa, aber ohne Europa; und über die Ukraine, aber ohne die Ukraine.

Merz macht Druck: Entscheidung am Donnerstag

Dass die Realität anders aussieht, geht maßgeblich auf Merz zurück. Zum ersten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 sei "in diesen Tagen die Möglichkeit eines Waffenstillstands vorstellbar", sagt er, während Selenskyj neben ihm im Kanzleramt steht. "Es liegt jetzt nur noch an Russland, ob es gelingt, bis Weihnachten einen Waffenstillstand zu erzielen." Vielleicht habe das Regime in Moskau "einen Rest menschlichen Anstand und lässt die ukrainische Bevölkerung wenigstens über Weihnachten in Ruhe". Schon zuvor hatte man gemerkt, wie nah dem Kanzler das Thema geht.

Merz ist die treibende Kraft hinter dem Bemühen, das eingefrorene russische Staatsvermögen in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro für die Ukraine nutzbar zu machen - eine Entscheidung, die rechtlich und politisch kompliziert ist. Trotzdem könnte der EU-Gipfel den Beschluss an diesem Donnerstag fällen. Sie muss, sagte Merz am Montag in Berlin: Dies sei eine Schlüsselfrage für die Europäische Union. Wenn dies nicht gelinge, zeige die EU der Welt, "dass wir in einer so entscheidenden Stunde unserer Geschichte nicht in der Lage sind, zusammenzustehen und zu handeln, um unsere eigene politische Ordnung (…) zu verteidigen". Der Beschluss, auf den Merz dringt, würde nicht nur Druck auf Russland aufbauen. Er würde gleichzeitig Trump zeigen, dass Europa sich von ihm nicht an der Nase herumführen lässt: In ihrem ursprünglichen 28-Punkte-Plan hatten die USA noch Zugriff auf die Hälfte des Geldes gefordert.

Noch ist die Entscheidung nicht gefallen - vor allem Belgien, wo ein Großteil der russischen Mittel liegt, fürchtet sich vor russischer Vergeltung. Um den Umgang mit den eingefrorenen russischen Milliarden dürfte es heute Abend auch im Kanzleramt gehen. Dort treffen sich nach Abschluss der Verhandlungen von Witkoff und Kushner mit Selenskyj zahlreiche europäische Staats- und Regierungschefs, vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron über den Briten Keir Starmer, der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bis hin zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Nato-Generalsekretär Mark Rutte. Das Treffen ist auch als Solidaritätsaktion für die Ukraine gedacht.

Keine Unterstützung ohne deutsche Führung

Dass all diese diplomatischen Bemühungen in naher Zukunft zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führen, ist zwar wenig wahrscheinlich. "Kompromissbereit sind die Russen nicht", sagt Oberst Markus Reisner in seinem aktuellen Blick auf die Front. Aber immerhin sind die Europäer beteiligt. In seiner erst siebenmonatigen Amtszeit habe Merz sich als derjenige erwiesen, der in Europa am ehesten als "politischer Pilot" bezeichnet werden könne, schreibt die "New York Times" in einem großen Artikel über Merz - auch wenn sie hinzufügt, der Kanzler müsse "sogar noch höher fliegen", soll heißen: noch stärker führen.

"Berlin steht gerade im Zentrum sehr wichtiger diplomatischer Gespräche und Entscheidungen", sagt Selenskyj am Nachmittag beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum. Er dankt Europa für die Einigkeit und Merz für seine Unterstützung. Klar ist: Das eine würde es ohne das andere nicht geben.

Quelle: ntv.de

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