"Es gilt wachsam zu bleiben" Intensivmediziner offen für Maskenpflicht-Lockerung
15.06.2021, 07:52 Uhr
Bald nur noch ein Accessoire für Innenräume?
(Foto: dpa)
Aus dem Alltag sind sie kaum wegzudenken: Schutzmasken gegen das Coronavirus. Doch mit sinkenden Fallzahlen keimt die Diskussion nach einem Ende der Tragepflicht auf. Experten und Politiker äußern Verständnis dafür. Sie warnen aber vor zu schnellen und weitreichenden Lockerungen.
Die Intensivmediziner stehen einer Lockerung der Maskenpflicht im Freien positiv gegenüber. Generell spreche nichts dagegen, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Gernot Marx, den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND). Zur Begründung verwies er auf die sinkenden Infektionszahlen und den Fortschritt der Impfkampagne. In Innenräumen rät Marx aber weiter zum Tragen von Masken.
"Jetzt im Sommer halten wir uns viel im Freien auf, die Inzidenzen sinken weiter, und das Wichtigste: Es sind immer mehr Menschen bereits ein- oder zweimal geimpft", sagte Marx. Das Pandemie-Management funktioniere aktuell also sehr gut. "Auch wir in der Intensivmedizin haben zwar immer noch viele Patienten, aber die Zahl der Covid-19-Patienten wird täglich kleiner. Das ist für uns eine große Erleichterung."
Zugleich betonte Marx: "Es gilt wachsam zu bleiben und das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Deshalb sollten wir meiner Meinung nach in Innenräumen weiterhin Maske tragen, um kein Risiko einzugehen." Hier könne sich das Virus sehr schnell wieder verbreiten. "Draußen, wo auf großer Fläche viel Abstand zwischen viele Menschen kommen kann und die Aerosole sich nicht in einem Raum sammelt, kann man durchaus die Maske einmal ablegen und ein bisschen frühere Normalität zurückgewinnen", sagte der Verbandspräsident.
In der "Rheinischen Post" knüpfte Marx die Lockerung der Maskenpflicht zudem an eine Impfquote von 70 Prozent. "Wenn wir in puncto Impfquote bei 70 Prozent angelangt sind und die Inzidenzen weiterhin auf niedrigem Niveau bleiben - dann ist der richtige Zeitpunkt für solche Diskussionen gekommen", sagte Marx. Derzeit haben rund 26 Prozent der Bürger die für den vollen Impfschutz nötige Impfdosis bekommen - wenn man die zweiwöchige Wartezeit bis zur vollen Wirkung einbezieht, sind erst knapp 18 Prozent voll impfgeschützt. Bis zu 70 Prozent Impfquote wird es also noch Monate dauern.
Um die Maskenpflicht generell aufzuheben, sollte nach Ansicht des Leipziger Epidemiologen Martin Scholz bis zum regulären Ende der Impfkampagne gewartet werden, wie er dem Nachrichtenportal "Watson" sagte. Die Bundesregierung hat jedem bis Ende September ein Impfangebot versprochen. Gleichwohl befürwortet er ebenso wie der Intensivmediziner Marx und die Braunschweiger Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann Lockerungen im Freien. "Da die Verbreitung der Erreger über Aerosole draußen kaum ein Thema ist, könnten wir im Freien gut auf Masken verzichten", sagte Brinkmann der "Braunschweiger Zeitung". Marx riet aber, in Menschenansammlungen auch draußen eine Maske zu tragen, etwa beim Schlangestehen oder an Bushaltestellen.
"Die paar Wochen hätten wir doch noch warten können"
Zugleich kritisierte Brinkmann, dass Schüler in Niedersachsen bei weniger als 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche im Unterricht keine Masken mehr tragen müssen, obgleich Kinder in der Regel nicht geimpft und Schnelltests nur bedingt zuverlässig sind. "Es ist ein Stück zu früh", sagte sie. "Wir haben doch bald Sommerferien. Die paar Wochen hätten wir doch noch warten können." Auch Mecklenburg-Vorpommern hat die Maskenpflicht im Schulunterricht bereits aufgehoben. Allerdings liegt dort die Inzidenz unter 5.
Wie am Montag bereits der Lehrerverband, warnte auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) davor, die Maskenpflicht in Schulen jetzt abzuschaffen. "Viele Klassenräume lassen sich nicht richtig lüften. Zudem gibt es bei der Bereitstellung und Einrichtung von Lüftungsanlagen noch erheblichen Nachholbedarf", erklärte GEW-Chefin Maike Finnern dem RND. Viele Lehrkräfte seien auch noch nicht vollständig geimpft.
Unionsfraktionsvize Stephan Stracke und die Grünen-Gesundheitsexpertin Kordula Schulz-Asche äußerten sich in der "Welt" ebenfalls vor einem vorschnellen Aussetzen der Maskenpflicht. "Zwar sinken die Inzidenzen, die pandemische Situation entspannt sich. Allerdings ist die Gefahr des Coronavirus angesichts der ansteckenderen Virusmutationen noch nicht gebannt", so Stracke. "Wir sollten deshalb weiter vorsichtig und umsichtig handeln. Mit diesem Kurs haben wir die dritte Welle erfolgreich gebrochen." Die Maske sei neben der Impfung ein effektives Instrument im Kampf gegen Corona. "Deshalb warne ich vor einer vorschnellen Aussetzung der Maskenpflicht."
Auch Schulz-Asche mahnte weiter zur Vorsicht. "Das Abstandhalten und das Tragen einer Maske in bestimmten Situationen sind moderate Mittel, um gerade diejenigen zu schützen, die noch keinen vollständigen Impfschutz haben", sagte die Berichterstatterin für Infektionsschutz in der Grünen-Bundestagsfraktion der "Welt". Am ehesten könne die Maskenpflicht dort verantwortungsvoll gelockert werden, wo die Inzidenzwerte dauerhaft sehr niedrig seien und Menschen im Freien zusammenkämen, sagte Schulz-Asche. "Denn dann ist die Ansteckungsgefahr auch für Nicht-Immunisierte gering."
Anhaltende Maßnahmen in Pflegeheimen gefordert
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hatte am Wochenende darauf verwiesen, dass die Länder laufend prüfen müssten, ob und wo die Maskenpflicht noch verhältnismäßig ist. Sie ist in Verordnungen der Länder geregelt. Für draußen gibt es zum Beispiel Vorgaben für belebte Plätze und Einkaufsstraßen, teils auch für Spielplätze.
"Wenn wir jetzt die Bremse ganz loslassen, kann es sein, dass wir wieder von der Straße in Richtung Normalität abkommen", mahnte der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, im Gespräch mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Zur Begründung sagte er, nicht alle Pflegekräfte, Bewohner und Besucher seien geimpft. Lockerungen in Pflegeeinrichtungen wie etwa die Aufhebung der Maskenpflicht müssten daher "mit Augenmaß erfolgen". Mit Blick auf die aktuelle Diskussion über eine weitreichende Aufhebung der Corona-Auflagen erklärte er, trotz sinkender Fallzahlen "sollte der besonderen Situation in Pflegeeinrichtungen weiterhin unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit gelten".
Auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, forderte anhaltende Vorsichtsmaßnahmen, zugleich aber auch bessere Bedingungen für Pflegebedürftige in den Einrichtungen. "Klar ist, dass der Infektionsschutz und die Freiheitsrechte von Heimbewohnern im Einklang miteinander stehen müssen", sagte Brysch den Funke-Zeitungen. Besuche, Zusammenkünfte und Feste für vollständig Geimpfte oder Getestete müssten "bedingungslos möglich sein". Um den Schutz der Hochrisikogruppe weiter sicherzustellen, bleibe aber eine Testpflicht für ungeimpfte Mitarbeiter und Besucher unerlässlich, sagte Brysch.
Der Vizepräsident des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Stefan Werner, sagte, trotz rückläufiger Inzidenzen sei in den Pflegeeinrichtungen noch keine Rückkehr zum Normalzustand möglich. Die Einrichtungen sorgten aber dafür, dass die Isolation von Betreuten "so weit als möglich" vermieden und beispielsweise Mahlzeiten in den meisten Einrichtungen wieder gemeinsam eingenommen werden könnten.
Quelle: ntv.de, fzö/dpa/AFP