Lieber im Iran als in Katar Warum tötet Israel ausgerechnet den Chefunterhändler der Hamas?


Ismail Hanija war Politbüro-Chef der Hamas.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Mit der Tötung des politischen Chefs der Hamas geht Israel ein Risiko ein: Der Iran droht mit Vergeltung und die Gespräche über eine Waffenruhe im Gazastreifen dürften beendet sein. Aber zugleich gibt es aus israelischer Sicht gute Gründe für Ort und Zeitpunkt des Anschlags.
Eine Überraschung ist der Tod von Ismail Hanija nicht. Bereits kurz nach dem blutigen Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Israel werde die Hamas vernichten. Das galt vor allem dem Hamas-Chef im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, den Israel als zentralen Planer der Anschläge bezeichnet. Aber die Drohung galt allen Hamas-Anführern und damit auch Hanija.
Dabei geht es nicht nur um Rache oder Vergeltung, auch wenn das rhetorisch immer so wirkt. "Israels Problem ist, dass das Massaker der Hamas am 7. Oktober und die andauernden Angriffe der Hisbollah das Abschreckungspotenzial des Landes erheblich geschwächt haben", sagte Nahost-Experte Stephan Stetter im Interview mit ntv.de. Genau dieses Abschreckungspotenzial sei über Jahrzehnte Israels Rückversicherung gewesen. Für Israel habe sich nach dem 7. Oktober die Frage gestellt, wie es sein Abschreckungspotenzial wiederherstellen kann. "Was wir jetzt in Beirut und in Teheran gesehen haben, sind gezielte Antworten auf eine sehr konflikthafte Lage. Die haben ein Eskalationspotenzial. Aber sie sind eben auch eine Reaktion auf Bedrohungen, denen Israel ausgesetzt ist."
Hanija war Chef des Politbüros der Hamas, seit 2017 lebte er außerhalb des Gazastreifens, vorwiegend in Katar, aber auch in der Türkei. Trotz seiner herausgehobenen Position lag die eigentliche Macht in der Hamas nicht bei ihm, sondern bei den militärischen Befehlshabern im Gazastreifen. Neben Sinwar ist oder war dies Mohammed Deif, Sinwars Stellvertreter. Deif könnte am 13. Juli bei einem israelischen Luftangriff auf Chan Junis im Süden des Gazastreifens ums Leben gekommen sein. Ein paar Tage danach sagte Israels Armeesprecher Daniel Hagari, es gebe "zunehmend Anzeichen" für eine "erfolgreiche Eliminierung" Deifs.
Kein Kommentar aus Israel
Die Verantwortung für die Tötung Hanijas hat Israel dagegen bislang nicht übernommen: Der israelische Regierungssprecher David Mencer lehnte es am Mittwoch ab, etwas zu dem Anschlag zu sagen. "Wir kommentieren diesen speziellen Vorfall nicht", sagte er bei einem Briefing mit Journalisten.
Auch wenn Hanijas Rolle in der Hamas eher repräsentativer Art war, wie die israelische Tageszeitung "Haaretz" schreibt, so ist die Bedeutung seiner Tötung kaum zu überschätzen. Es war Hanija, der die Angriffe auf Israel am 7. Oktober als Zeichen der "Schwäche des Feindes" pries. Seine Botschaft an die arabischen Staaten der Region war: "All die Normalisierungsabkommen, die ihr mit diesem Gebilde [Israel] geschlossen habt, können den Konflikt nicht lösen."
Vor dem palästinensischen Überfall hatte Israel mit einer Reihe arabischer Staaten die sogenannten Abraham-Abkommen unterzeichnet, deren Ziel es war, die Beziehungen zwischen Israel und den Staaten der Region zu normalisieren. Der Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023 machte auch diesen Prozess zunichte. Diese Folge der Hamas-Anschläge auf Israel war ganz im Sinne des Iran, dem wichtigsten Verbündeten der Hamas.
"Wie soll Vermittlung gelingen, wenn der Unterhändler ermordet wird?"
Umso symbolischer ist der Ort des Anschlags, Teheran, wo Hanija sich aufhielt, weil er am Dienstag an der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian teilgenommen hatte. Für Israel dürften allerdings praktische Gründe wichtiger gewesen sein als das Symbol. Die Türkei kam als NATO-Staat kaum infrage für einen solchen Angriff. Und ein Angriff auf ein Ziel in Katar, wo Hanija zuletzt lebte, hätte die Beziehungen zu dem Kleinstaat am Persischen Golf schwer belastet: Zusammen mit Ägypten fungiert das Land als Vermittler zwischen Israel und der Hamas. Nach dem Anschlag in Teheran dürften die Verhandlungen zwar vorläufig beendet sein. Aber Katar selbst hat seine Rolle nicht aufgegeben: "Politische Morde und der fortgesetzte Beschuss von Zivilisten im Gazastreifen, während Gespräche geführt werden, lassen uns fragen, wie Vermittlung gelingen kann, wenn eine Partei den Unterhändler der anderen Seite ermordet", schrieb Katars Ministerpräsident Scheich Mohammed bin Abdulrahman al-Thani auf X.
Im Ramallah sagte der palästinensische Politiker Mustafa Barghuthi nach Angaben des arabischen Senders Al-Dschasira, Netanjahu versuche, einen regionalen Krieg zu entfachen, um die USA in einen Krieg gegen den Iran zu ziehen. Wahrscheinlicher dürfte etwas anderes sein: Die israelische Regierung hat Hanija in einem Moment ausgeschaltet, in dem dies möglich war. Das war ihr wichtiger, als Rücksicht auf die Verhandlungen zu nehmen. Für ein Interesse der USA oder Israels an einem offenen Krieg mit dem Iran gibt es keine Hinweise. Am Rande eines Besuchs in Singapur betonte US-Außenminister Anthony Blinken, die USA hätten von dem Anschlag auf Hanija nichts gewusst und sie hätten nichts damit zu tun gehabt. Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte, Israel wolle keinen Krieg, bereite sich aber auf jede Eventualität vor.
Teheran war aus israelischer Sicht ein passender Ort für den Angriff auf Hanija, weil Israel eine Verschlechterung der Beziehungen zum Iran nicht fürchten muss. Beide Länder befinden sich ohnehin seit Jahren in einem "Schattenkrieg". Das Regime in Teheran unterstützt die Hamas nicht nur, es sieht Israel als Todfeind, der vernichtet werden muss. Und so kam nach der Tötung des Hamas-Anführers auch eine Drohung nach der anderen aus Teheran: Die Revolutionsgarden kündigten "eine harte und schmerzhafte Reaktion" an; Präsident Peseschkian erklärte, sein Land werde dafür sorgen, dass "die terroristischen Besatzer ihre feige Tat" bereuen würden; der eigentliche Machthaber im Iran, Ajatollah Ali Chamenei, verkündete, Rache sei die Pflicht des Iran, da Hanija auf iranischem Boden getötet worden sei.
Iran wird reagieren müssen
Zugleich sagte der iranische Vizepräsident Mohammed-Resa Aref, der Iran wolle den Konflikt im Nahen Osten nicht eskalieren. Das bedeutet nicht, dass der Iran keinen Gegenschlag plant: Bereits im April hatte das Land Israel mit massiven Raketen- und Drohnen-Angriffen überzogen. Aber schon am Abend nach den Angriffen hatte der Iran damals mitgeteilt, die Attacke sei ein Gegenschlag für einen israelischen Angriff gewesen und man betrachte die Angelegenheit damit als abgeschlossen.
Das sollte heißen: Einen großen Krieg wollen wir nicht - schon wirtschaftlich kann er ihn sich gar nicht leisten. Dennoch werde der Iran mit einer Machtdemonstration reagieren müssen, sagte der US-Militäranalyst Cedric Leighton dem US-Sender CNN. Denn auch Teheran muss sein Abschreckungspotenzial aufrechterhalten. "Das könnte ein Raketenangriff auf Israel sein, wie wir ihn vor ein paar Monaten gesehen haben", sagte Leighton, ein ehemaliger Oberst der US-Luftwaffe. Der Iran könne aber auch mit Terroranschlägen auf israelische Einrichtungen in der Region oder sogar weltweit reagieren. Auch Cyber-Attacken gegen Israel oder gegen Verbündete Israels, vor allem die USA, seien möglich.
Nur Stunden vor der Tötung Hanijas hatte ein anderer Angriff die Schlagzeilen aus der Region dominiert: Am Dienstag tötete Israel mit einem Luftangriff auf einen Vorort von Beirut Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr. Die Tötung Hanijas hat allerdings eine andere Qualität. Zwar ist die Hamas weniger mächtig als die Hisbollah, aber der Iran ist stärker hochgerüstet als die Schiitenmiliz. Zudem war Hanija das prominentere Ziel. Gemeinsam haben beide Angriffe das Risiko: Auch die Hisbollah hat Israel mit massiver Vergeltung gedroht.
Seit Monaten schon beschießen die Hisbollah und Israel sich gegenseitig mit Raketen. Wie im Schattenkrieg mit dem Iran hat dieser Konflikt das Potenzial, außer Kontrolle zu geraten, auch wenn die Beteiligten das gar nicht wollen. "Weder der Iran noch die Hisbollah sind an einem umfassenden Krieg interessiert", sagt der Nahost-Experte Stetter. "Die Akteure scheuen sich vor der Eskalation, aber natürlich können sie in einen Krieg hinein rutschen."
Quelle: ntv.de