Radikale im Westjordanland Israelische Siedler setzen mehr denn je auf Gewalt


Bewaffnete Siedler 2022 vor der palästinensischen Stadt Nablus. Ihre Siedlungen sind nach dem Völkerrecht illegal.
(Foto: picture alliance/dpa)
Im Schatten des Gaza-Krieges nehmen Übergriffe radikaler Siedler im Westjordanland zu. Ganze Dorfgemeinschaften werden vertrieben, die Zahl der Toten ist so hoch wie seit vielen Jahren nicht. Zugleich radikalisieren sich junge Palästinenser zunehmend.
Am 13. Oktober veröffentlichte die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem ein Video auf X, das in der Nähe von Hebron im Westjordanland aufgenommen wurde. Darin ist zu sehen, wie es zwischen einem Mann in Zivilkleidung, der ein Maschinengewehr in den Händen hält, und seinem augenscheinlich unbewaffneten Gegenüber zu einem kurzen Handgemenge kommt. Dann schießt der Bewaffnete dem Mann aus nächster Nähe in den Bauch. Der Angeschossene sackt zusammen, der Schütze entfernt sich. Etwas abseits beobachtet ein Dritter in israelischer Militäruniform die Szene, er greift nicht ein.
Das Video dokumentiert einen jüngsten Fall von Siedlergewalt, wie die israelische Zeitung "Haaretz" berichtet. "Im Westjordanland war die Lage in den letzten Monaten bereits sehr angespannt", sagt Steven Höfner im Gespräch mit ntv.de. Er leitet das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah. Nahezu täglich sei es zu Angriffen von Siedlern auf palästinensische Dörfer gekommen, Palästinenser attackierten wiederum israelische Militärposten oder Siedler.
Das deckt sich mit Berichten der Vereinten Nationen (UN). Schon vor den Hamas-Massakern vom 7. Oktober war 2023 das blutigste Jahr seit der Zweiten Intifada für das Westjordanland. Zum einen gehen Siedler immer militanter vor, zum anderen steigen die Opferzahlen nach Aktionen der israelischen Armee (IDF). Ein UN-Report aus dem September zählt 173 tote Palästinenser durch Zusammenstöße mit der IDF im Westjordanland, darunter 58 Kinder.
Tausende Palästinenser vertrieben
Mit dem Überfall der Hamas auf Israel hat sich die Lage noch verschärft. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros sind seither acht Palästinenser im Westjordanland durch Siedler und 113 weitere Menschen durch israelische Soldaten getötet worden. Rund tausend Palästinenser wurden demnach aus ihren Häusern vertrieben.
Nicht nur die UN beobachtet die zunehmende Gewalt im Westjordanland mit Sorge. Auch US-Präsident Joe Biden verurteilte die Angriffe extremistischer Siedler, die "Benzin auf die bereits lodernden Brände im Nahen Osten" gießen würden. "Das muss jetzt aufhören", sagte er in einer für die eng mit Israel verbündeten USA ungewohnten Deutlichkeit.
Seit dem Sechstagekrieg 1967 hält Israel das Westjordanland besetzt. Anders als im Gazastreifen, aus dem das Land 2005 seine Armee abzog und mit ihr auch 9000 Siedler den Küstenstreifen verließen, treibt die israelische Regierung den Bau von Siedlungen im Westjordanland systematisch voran. Es sind nach internationalem Recht illegal errichtete Städte und Dörfer, umzäunt oder ummauert und schwer bewacht.
Ihre Expansion schmälert die Aussichten auf die vom Westen weiterhin angestrebte Zwei-Staaten-Lösung noch mehr. Denn auf dem Gebiet, das eigentlich einmal den flächenmäßig größten Teil eines palästinensischen Staates ausmachen soll, leben neben knapp 2,5 Millionen Palästinensern inzwischen 500.000 israelische Siedler. Ihre Lebenssituationen sind grundverschieden. Als israelische Staatsbürger werden die Siedler von der israelischen Armee geschützt, während den Palästinensern unter der Besatzung bürgerliche Rechte verwehrt werden.
Siedlungsbau im Rekordtempo
Viele Siedlerinnen und Siedler erheben einen biblisch-historischen Gebietsanspruch auf das Westjordanland, der vom Völkerrecht nicht gedeckt ist. Dennoch genehmigte die bisherige, in Teilen rechtsextreme Regierung um Benjamin Netanjahu neue Siedlungen im Akkord - seit Antritt der Koalition im Januar bis Mitte 2023 waren es allein 7000 Wohneinheiten.
Unter Netanjahus Rechtsregierung erfuhren die Siedler, ohnehin eine wichtige Wählergruppe, eine politische Aufwertung. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, leben beide selbst in Siedlungen. Smotrich sprach sich im März dafür aus, die palästinensische Kleinstadt Huwara "auszuradieren". Ben Gvir ließ in Reaktion auf das Blutbad der Hamas weitere Schusswaffen an die ohnehin schwer bewaffneten Siedler verteilen. "Wir werden die Welt verändern, damit die Siedlungen geschützt werden", sagte er.
In Israel ist der siedlungsfreundliche Regierungskurs umstritten. Dass die Hamas bei ihrem Terrorakt kaum auf Gegenwehr stieß, lag nach Ansicht vieler Beobachter daran, dass Teile der Armee durch den Schutz der Siedler im Westjordanland gebunden waren. Nach den Massakern weitete die Armee zudem ihre Anti-Terror-Einsätze in der Gegend aus. Über 1500 Palästinenser sollen von der IDF in den letzten drei Wochen verhaftet worden sein, sagt Höfner.
Bei den Razzien kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Am Montag drang die Armee laut der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa mit mehr als 100 Militärfahrzeugen und zwei Bulldozern in das Flüchtlingslager der Stadt Dschenin ein, eine Hochburg bewaffneter palästinensischer Gruppen. Vier Menschen wurden demnach getötet, neun weitere verletzt.
Palästinenser wurden misshandelt
Laut Recherchen von "Haaretz" kollaboriert die Armee auch mit radikalen Siedlern. Am 12. Oktober rückten Siedler und israelische Soldaten in die kleine beduinische Gemeinde Wadi al-Seek ein. Nach Aussage mehrerer Augenzeugen, mit denen die Zeitung gesprochen hat, wurden drei Bewohner stundenlang misshandelt. Die Täter sollen Zigaretten auf ihnen ausgedrückt und auf sie uriniert haben. Die israelische Armee sagte "Haaretz", der Vorfall werde untersucht, ein Kommandeur sei entlassen worden.
"Wir zahlen für das, was passiert ist", sagte Abu Bashar, ein Anführer der Gemeinschaft von Wadi al-Seek, der Nachrichtenagentur AFP mit Blick auf den Krieg in Gaza. Alle 200 Bewohner des Dorfes seien vertrieben worden. Eine Woche später habe die israelische Armee den Bewohnern erlaubt, ihre Sachen zu holen, aber alles sei zerstört gewesen. Journalisten von AFP bestätigen die Plünderung von Häusern. In und um das Dorf herum verkehrten zivile Fahrzeuge, einige von ihnen mit israelischen Flaggen.
Das ist wohl kein Einzelfall. Ein Zusammenschluss aus 30 israelischen NGOs spricht von mindestens 13 palästinensischen Ortsgemeinschaften, die seit dem 7. Oktober mit Gewalt vertrieben wurden. "Minister und andere Beamte der Regierung unterstützen die Gewalt und in vielen Fällen ist das Militär anwesend oder beteiligt sich sogar", schreiben die Organisationen in einem Hilferuf an die internationale Gemeinschaft.
"Die Siedler nutzen den Krieg aus, um das Gebiet C von nicht-jüdischen Menschen zu säubern", sagte der israelische Aktivist Guy Hirschfeld der AFP. "Gebiet C" ist ein Verwaltungsgebiet, das 62 Prozent des Westjordanlands umfasst und von der israelischen Armee kontrolliert wird. Die Zonen A und B verwaltet die Palästinensische Autonomiebehörde unter der Führung der moderaten Fatah-Partei.
Fatah hält sich mit Hamas-Kritik zurück
Die letzten Wahlen in den palästinensischen Gebieten gab es 2006, damals verlor die Fatah gegen die mit ihr verfeindete, islamistische Hamas, die seither im Gazastreifen herrscht. Die Fatah und ihr Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland gelten als korrupt und schwach, ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist gering. Der grassierenden Armut und Perspektivlosigkeit hat sie kaum etwas entgegenzusetzen. Zwar kooperiert die Fatah auf verschiedenen Ebenen mit der israelischen Regierung, im aktuellen Gaza-Krieg halte sie sich aber "angesichts der Stimmung in der Öffentlichkeit mit kritischen Äußerungen zur Hamas zurück", sagt Nahost-Experte Höfner.
Denn die Stimmung in der Öffentlichkeit ist aufgeladen. In den größeren Städten wie Hebron, Nablus oder Ramallah kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen das israelische Vorgehen in Gaza. Die Proteste könnten sich in Zukunft jedoch auch gegen die Autonomiebehörde richten, der insbesondere von der jungen Bevölkerung eine Mitschuld an der aktuellen Lage attestiert werde, sagt Höfner.
Gleichzeitig führt die Gewalt von Siedlern und IDF offenbar zu einer Radikalisierung junger Palästinenser. Im Flüchtlingslager von Dschenin etwa sei die Autonomiebehörde praktisch unsichtbar, berichtet die "Washington Post". Stattdessen hätten dort bewaffnete Kämpfer das Sagen. "Israel hat immer versucht, präventiv mit voller Gewalt vorzugehen, um jede Art von Gegenwehr zu verhindern", sagte Tahani Mustafa von der International Crisis Group der Zeitung. Doch wenn überhaupt habe das den Effekt, dass sich junge Männer radikalisieren. Mustafa zufolge haben militante Aktivitäten zuletzt zugenommen.
Steven Höfner von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah hält die Gefahr einer weiteren Eskalation im Westjordanland für groß. "Die Konfliktlage dort wäre dann allerdings eine deutlich andere als im Gazastreifen." Israelische Siedlungen liegen in unmittelbarer Nähe zu palästinensischen Dörfern und Städten, es gebe viele tägliche potenzielle Berührungspunkte. "Für die IDF wie auch für die Palästinensische Autonomiebehörde wäre die Lage dann nur schwer unter Kontrolle zu halten", sagt Höfner.
Quelle: ntv.de