Politik

Ein Dinner soll den Deal retten Johnson provoziert vor dem Brexit-Gipfel

Standpunkte, die "kein Premierminister dieses Landes akzeptieren sollte": Johnson vor dem Abflug nach Brüssel.

Standpunkte, die "kein Premierminister dieses Landes akzeptieren sollte": Johnson vor dem Abflug nach Brüssel.

(Foto: dpa)

Kann ein persönliches Gespräch doch noch den Durchbruch bringen? Der britische Premier Johnson und Kommissionspräsidentin von der Leyen treffen sich in Brüssel, um Streitfragen beim Handelsabkommen auszuräumen. Doch eine Einigung ist alles andere als sicher. Zumal sich Johnson hart gibt.

Die Corona-Pandemie überschattet ein anderes Thema, das jedoch große Auswirkungen auch auf Deutschland haben dürfte: der Brexit. Nach dem formalen Austritt aus der Europäischen Union im Februar ist Großbritannien noch bis zum Jahresende Teil des Binnenmarktes und der Zollunion. Doch diese Übergangsphase endet in wenigen Tagen am 31. Dezember. Was danach kommt: unklar. Die Verhandlungen über ein Handelsabkommen stocken.

Einen letzten Versuch für einen Durchbruch unternehmen nun EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson. Ein Arbeitsessen in Brüssel am heutigen Abend ab 20 Uhr soll es richten und ein Abkommen in letzter Minute ermöglichen. Denn am Donnerstag und Freitag tagen die EU-Staats- und Regierungschefs letztmalig in diesem Jahr. Die Zeit für eine Ratifizierung des Abkommens ist ohnehin sehr knapp bemessen. Doch was sind die größten Streitpunkte der Verhandlungen, mit welchen Forderungen gehen beide Seiten in die Gespräche und was passiert, wenn der Durchbruch ausbleibt? Fragen und Antworten:

Warum drängt die Zeit?

Mit dem Jahreswechsel verlässt Großbritannien den gemeinsamen Binnenmarkt und die Zollunion der EU-Staaten. Damit wird das Land zu einem sogenannten Drittstaat, mit dem es keine vertraglichen Vereinbarungen über den Handel gibt. Automatisch würden allgemeine Handelsschranken gelten und Zölle auf den Warenverkehr zwischen EU und Königreich fällig, so wie sie die WTO vorsieht. Experten fürchten das Abreißen von Lieferketten, die Behinderung von Im- und Exporten und lange Schlangen an den Grenzen sowie eine Knappheit bestimmter Waren vor allem in Großbritannien. Die mittel- und langfristigen Folgen für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind noch nicht abzusehen.

Hinzu kommt, dass ein Handelspakt bis 1. Januar noch vom EU-Parlament und allen Staaten abgesegnet werden muss. Mit Sondersitzungen wäre dies aber prinzipiell möglich. Falls es jetzt nicht zu einer Einigung kommt, hat Großbritannien bereits angekündigt, dass die laufenden Handelsgespräche im Januar nicht fortgesetzt werden. Auch eine Verlängerung der Übergangsphase, die im Sommer noch möglich war, hatte London stets vehement abgelehnt.

Warum treffen sich von der Leyen und Johnson?

Die eigentlichen Gespräche führen EU-Unterhändler Michel Barnier und der Brite David Frost. Doch da die Verhandlungen seit Monaten nicht vorankommen, haben sich Kommissionspräsidentin von der Leyen und Premier Johnson vergangene Woche auf ein Spitzentreffen in Brüssel geeinigt. Zwei lange Telefonate der beiden endeten zuvor ebenfalls ergebnislos.

Die Publizistin und Historikerin Helene von Bismarck rechnet mit einem furiosen Finale der Brexit-Gespräche. "Es ist nicht ausgeschlossen, dass es mit einem Knall endet", sagte sie. "Die Idee des Treffens in letzter Minute, des Dramas, war von Johnson immer eingeplant." Der Premier sei "ein Mann für die große Bühne". Dem Politikwissenschaftler Anand Menon vom Londoner King's College zufolge hofft Johnson sogar auf eine Änderung des EU-Mandats. Er wolle vom Gipfel eingeladen werden, um direkt mit den 27 EU-Staats- und Regierungschefs zu verhandeln, so Menon.

Welche Themen sind umstritten?

Es wird vor allem um drei Punkte gerungen: Dissens gibt es bei den Fischereirechten von EU-Unternehmen in britischen Gewässern, daran hat vor allem Frankreich ein Interesse. Zudem geht es um faire Wettbewerbsbedingungen, also gleiche Umwelt-, Sozial- und Verbraucherstandards. Die EU fürchtet, dass etwa britische Waren zu Dumpingpreisen auf den europäischen Markt kommen könnten. Strittig ist außerdem der Rahmen zur Durchsetzung der Vereinbarungen. Die EU dringt etwa auf Sanktionen, die verhängt werden können noch bevor ein Streitschlichtungsgremium angerufen wird.

Was fordert Großbritannien?

Noch kurz vor dem Spitzengespräch zeigte sich Johnson hart: Die EU bestehe bei der Frage nach fairen Wettbewerbsbedingungen und der Fischerei derzeit noch auf Standpunkten, die "kein Premierminister dieses Landes akzeptieren sollte", sagte er im britischen Unterhaus. Ein guter Deal sei weiterhin möglich, doch sein Land werde so oder so "mächtig florieren". Am Dienstag hatte der Premier noch gesagt, beide Seiten seien "weit voneinander entfernt".

Was fordert die EU?

"Es gibt nach wie vor die Chance eines Abkommens, wir arbeiten weiter daran", sagte Kanzlerin Angela Merkel bei der Generaldebatte im Bundestag. Einen Deal um jeden Preis lehnen die EU-Staaten aber klar ab. Die Union sei darauf vorbereitet, einen "Weg ohne Austrittsabkommen" zu gehen, so Merkel. Mit einem schnellen Durchbruch rechnet sie ohnehin nicht.

Besonderen Wert legt die Kanzlerin auf die Frage des fairen Wettbewerbs. Dies sei die "eigentlich große Frage" bei den Verhandlungen. In diesem Punkt brauche es "befriedigende Antworten". Frankreich wiederum hat zuletzt immer wieder mit einem Veto gedroht, sollte die Frage nach den Fischereirechten nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Damit ein Handelsabkommen in Kraft tritt, müssen es alle EU-Staaten ratifizieren.

Ein Nachgeben gegenüber Großbritannien könnte aber auch andere EU-kritische Regierungen ermuntern. "Ich sage an die Adresse der EU: Hart bleiben, hart bleiben, hart bleiben, keinen Millimeter nachgeben", sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. Denn wenn die Gemeinschaft Großbritannien nachgäbe, würden Probleme mit Ungarn, Polen oder Italien folgen.

Welche Auswirkungen hätte ein No-Deal-Brexit?

Auf einige Güter würden hohe Zölle fällig: auf Autos etwa 10 Prozent, für gefrorenes Rindfleisch knapp 90, für Käse knapp 50 Prozent. Die Preise dieser Produkte würden im Importland steigen. Firmen, die vom Handel zwischen EU und Königreich abhängen, müssten schwere Einbußen hinnehmen. Umfangreiche Zollkontrollen könnten bei verderblichen Lebensmitteln zum Problem werden - sie könnten schlecht werden. Vor allem Wirtschaftsverbände warnen deshalb seit Monaten vor dem Scheitern der Handelsgespräche.

Allerdings würde es auch mit einem Abkommen Hemmnisse geben, da an der Grenze geprüft werden müsste, ob Produkte den Standards des EU-Binnenmarkts entsprechen. Großbritannien will die Zollkontrollen stufenweise einführen, auf EU-Seite beginnen sie ab dem 1. Januar. Die Folge dürften lange Staus auf der englischen Seite des Kanals sein.

Sowohl Bundesregierung und EU, aber auch Großbritannien haben bereits Notfallpläne für einen No-Deal-Brexit ausgearbeitet. Experten fürchten, dass die Auswirkungen in Großbritannien wesentlich mehr zu spüren sein würden als im wesentlich größeren EU-Markt.

Was passiert mit Urlaubsreisen bei einem No-Deal?

EU-Urlauber, die ins Königreich reisen wollen, können dies auch weiterhin problemlos tun, auch bei einem No-Deal-Brexit. Bei Aufenthalten bis zu sechs Monaten ist kein Visum nötig. Ab dem 1. Oktober 2021 ist allerdings ein Reisepass nötig, der Personalausweis reicht dann nicht mehr. Britische Urlauber wiederum dürfen ohne Visum in der EU Urlaub machen, bis zu 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen.

Droht der Nordirland-Konflikt wieder aufzubrechen?

Der Nordirland-Konflikt war bereits bei den Brexit-Verhandlungen von 2019 ein zentrales Thema, denn eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem zur EU gehörenden Irland weckt Befürchtungen vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs. Im Brexit-Abkommen von 2019 gilt deshalb die Sonderregel, dass Nordirland de facto weiter Teil von EU-Zollunion und Binnenmarkt bleibt. Zollkontrollen werden damit erst zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens nötig.

Großbritannien wollte diese Regel aushebeln, da es ein Erstarken der Unabhängigkeitsbestrebungen Nordirlands fürchtet. Nach scharfem Protest der EU hat London inzwischen zurückgerudert: Selbst bei einem No-Deal-Brexit soll das sogenannte Nordirland-Protokoll sicherstellen, dass es nicht zu einer harten Grenze kommt.

Quelle: ntv.de, mit dpa

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen