75 Jahre "Nürnberger Gesetze" Judenvernichtung mit Stiefel und Stempel
15.09.2010, 10:14 UhrSie legten die Grundlage für den Mord an Millionen Juden und säten unter der übrigen deutschen Bevölkerung Hass und Missgunst. Am 15. September vor 75 Jahren wurden die verbrecherischen "Nürnberger Gesetze" erlassen.

Die Infotafel zu den "Nürnberger Gesetzen" in der Innenstadt von Nürnberg befindet sich an der Stelle, an der die Nazi-Dokumente 1935 unterzeichnet wurden.
(Foto: dpa)
Sie bestanden aus nur wenigen Zeilen, ihre Wirkung aber war verheerend: Mit den sogenannten "Nürnberger Gesetzen" machten die Nazis im Dritten Reich die Juden, später auch Sinti, Roma und Farbige zu rechtlosen Bevölkerungsgruppen - und schufen damit die Grundlage für den Holocaust. Der Historiker Eckart Dietzfelbinger vom Nürnberger Dokuzentrum Reichsparteitagsgelände ist überzeugt: "Sie gehören zu kriminellsten Gesetzen, die jemals in der Geschichte der Menschheit erlassen wurden." Am 15. September jährt sich der Erlass der aus drei Einzelgesetzen bestehenden Dekrete zum 75. Mal.
Das Reichsbürgergesetz billigte nur noch Angehörigen "deutschen und artverwandten Blutes" volle Rechte als Reichsbürger zu. Damit wurden Juden nicht nur aus dem Wirtschafts- und Berufsleben gedrängt, mit ihm war auch die Grundlage für die spätere Beschlagnahme jüdischen Eigentums gelegt. "Schulfreunde kannten ihre jüdischen Kameraden nicht mehr, sie durften nicht mehr Straßenbahn fahren, nicht mehr in Sportvereinen Mitglied sein, mussten ihre Haustiere abgeben. Juden starben den sozialen Tod", beschreibt Dietzfelbinger das Schicksal von Millionen Juden.
Gesetz fördert Hass in erschreckender Weise
Noch weitaus mehr vergiftet wurde das politische Klima vom "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". Die sieben Paragrafen des "Blutschutzgesetzes" bestraften Ehen oder sexuelle Kontakte mit Juden mit Zuchthaus oder dem Tode. Selbst harmlose Umarmungen, vom Nachbarn an die Gestapo gemeldet, konnten den Betroffenen das Leben kosten. "Das Gesetz", so urteilt der Nürnberger Historiker Carlo Jahn in einem Aufsatz, "wandte sich an niedrige Instinkte: Erpressungen und Denunziationen aus Sexualneid, aus Eifersucht und oft genug aus der persönlichen oder geschäftlichen Konkurrenz waren die Folgen." Ähnlich sieht das Dietzfelbinger: "Mit dem Gesetz wurden in Deutschland Hass, Missgunst und Bösartigkeit in erschreckender Weise gefördert".

Männer der SA veranstalten 1938 einen Hetzmarsch durch die Straßen von Berlin gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands.
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Nach Jahns Erkenntnissen wurden die Gesetze, zu denen auch das Reichsflaggengesetz gehörte, innerhalb weniger Stunden in Nürnberg "zusammengeschustert". Reichsinnenminister Wilhelm Frick und Reichsärzteführer Gerhard Wagner hätten - in enger Abstimmung mit Adolf Hitler - bis in die frühen Morgenstunden des 15. September 1935 daran gearbeitet. Stunden später beschloss der im Nürnberger Kulturvereinshaus einberufene Reichstag die Gesetze. Noch am selben Tag verkündete sie Hitler auf dem "Reichsparteitag der Freiheit".
Kein Flickwerk, sondern Strategie
Die Eile, mit der die Nürnberger Rassegesetze erarbeitet und verabschiedet wurden, ließ Historiker lange an einer langfristig angelegten Strategie des Hitlers-Regimes zur Judenvernichtung zweifeln. Auf den ersten Blick wirkten die "Rassegesetze" wie ein Flickwerk - als seien sie aus einer Laune heraus entstanden, unreflektiert und ohne klar erkennbaren Plan. Spätestens mit der 2006 erschienen Dissertation der Historikerin Cornelia Essner gilt für Dietzfelbinger aber als gesichert: "Für die Nazis war das ein wichtiges Steuerungsinstrument zur Entrechtung von Juden, Sinti und Roma".
Der Weg dahin war für Dietzfelbinger lange vorgezeichnet. Die Grundlagen legte der in Mitteleuropa über Jahrhunderte latent vorhandene Antisemitismus. Hitlers Nationalsozialisten machten den Antisemitismus schließlich zu einem zentralen Punkt ihres Programms - allerdings mit einer nie dagewesenen Radikalität: "Sie gaben die Losung aus: Juden müssen von der Welt verschwinden", erläutert Dietzfelbinger. Als der so geschürte Judenhass im Lande mit unkontrollierten Übergriffen auf Juden aus dem Ruder zu laufen drohte, sah sich Hitler nach jüngster Historiker-Einschätzung im Jahre 1935 zum Handeln gezwungen.
Hitler steuerte Vernichtung
"Die Rassegesetze waren für Hitler das administrative Hebelwerk, um die Ausgrenzung und spätere Vernichtung steuern zu können", erklärt Dietzfelbinger. Sein Kollege Carlo Jahn spricht von Judenvernichtung "mit Stiefel und Stempel". Die Gesetze sorgten dafür, dass aus den illegalen Aktionen randalierender NS-Rüpel eine staatlich sanktionierte und von Justiz und Polizei unterstützte Ausgrenzung von Juden wurde. "Die Bürokratie brauchte dafür rechtliche Grundlagen - und die bekam sie mit den Nürnberger Gesetzen", sagt Dietzfelbinger. Sie konnte von nun an mit gutem Gewissen gegen die Juden vorgehen.
Quelle: ntv.de, Klaus Tscharnke, dpa