Politik

Der Macher macht dicht Kurz schwingt nun doch den Corona-Hammer

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Alles rot - ganz Österreich ist Corona-Risikogebiet.

(Foto: imago images/photonews.at)

Im Frühling noch Vorbild, nun Sorgenkind: Österreichs Bundeskanzler Kurz korrigiert den Corona-Kurs und verordnet inmitten eines "sanften" Lockdowns eine Vollbremsung. Der Preis für eine politische Irrfahrt.

Sebastian Kurz macht das nicht gern, und er will, dass alle es mitbekommen. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen verkündet Österreichs Bundeskanzler einen Lockdown - nur dieses Mal einen "richtigen", eine Verschärfung des sanften Lockdowns, der seit zehn Tagen gilt: Ab Dienstag sind die Geschäfte zu, die Schulen dicht, Ausgang ist nur noch in Ausnahmefällen erlaubt.

"Wie Sie wissen, war ich schon immer für härtere Maßnahmen", sagt Kurz an diesem denkwürdigen Samstagnachmittag in Wien. Die anderen waren es also, die zu lange gewartet haben, nun sei der Lockdown "notwendig", wie der Kanzler meint: "Nur so können wir eine Überforderung des Gesundheitssystems verhindern, nur so können wir Weihnachten retten."

Die Zahlen sind dramatisch: mehr als 7000 Neuinfektionen pro Tag, eine Übersterblichkeit von einem Viertel. Die Sieben-Tages-Inzidenz bei 554 je 100.000 Einwohnern macht Österreich weltweit zum traurigen Corona-Spitzenreiter. Was hat die Regierung falsch gemacht, will ein Reporter wissen. Kurz duckt sich unter der Frage weg. Auch wenn er und seine Regierungskollegen nicht über eigene Fehler reden wollen: Die Irrfahrt, die Österreich seit dem Sommer hinlegt, sie spricht für sich.

Ischgl? München!

In der ersten Welle hatte Österreich noch als eines der ersten Länder Europas hart durchgegriffen und die Infektionslage rasch in den Griff bekommen. Und Kurz sorgte dafür, dass es alle mitbekommen: Im April hielt er öffentlichkeitswirksam eine Konferenz einiger kleiner Länder ab, die ihre Zahlen niedrig halten konnten. Ihr Name, ersonnen in der PR-Maschinerie hinter Kurz: die "Smart Countries".

Deutsche Medien bewunderten den "Knallhart-Kanzler" ("Bild") für seine "klare Kommunikation" ("Welt"), bei "Maischberger" schlüpfte Kurz in seine Lieblingsrolle als Macher, von dem Europa und vor allem die deutschen Nachbarn lernen können. Ischgl? Nur ein Sündenbock, sagte Kurz vor deutschem Millionenpublikum, das Virus sei aus China eingewandert, und überhaupt: Er habe gelesen, München sei die wahre Drehscheibe.

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Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündet den Lockdown.

(Foto: dpa)

Weil Rache für Markus Söder bekanntlich Weißwurst ist, wird Bayerns Ministerpräsident seinen Auftritt bei "Anne Will" Anfang November genossen haben. "Österreich war mal eine Zeit lang vor Deutschland mit den Maßnahmen, wir haben da vieles gut abgucken können", sagte Söder. "Die hatten jetzt aber ein Stück weit lange gezögert, hatten Maskenprobleme gehabt. Und jetzt mussten sie ganz scharf und dramatisch nachziehen." Vom Macher zum warnenden Beispiel in nur einem halben Jahr - wie konnte das passieren?

Kein RKI, kein Drosten

Über die Probleme und die Gründe erfuhr man an diesem Samstagnachmittag nichts vom "virologischen Quartett", wie Kurz und seine drei Kollegen Rudolf Anschober (Gesundheitsminister), Karl Nehammer (Innenminister) und Werner Kogler (Vizekanzler) genannt werden. Kein Wort zum Contact Tracing, das seit Wochen nicht funktioniert. Nur 23 Prozent der Infektionen können noch nachvollzogen werden. Kein Wort zu einer neuen Teststrategie - rund ein Fünftel der Tests sind positiv, was auf eine hohe Dunkelziffer hindeutet.

Implizit aber gestand die Regierung einen Fehler ein. Drei Stunden vor den Politikern marschierten drei Mediziner auf, die in eindrücklichen Worten die Lage in den Krankenhäusern schilderten. Das Gesundheitssystem sei "vollkommen ausgelastet", sagte Susanne Rabady, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Allgemeinmedizin.

Dass kaum ein Österreicher Rabady und die beiden Experten neben ihr kennt, ist Teil des Problems: Österreich hat kein Robert Koch-Institut, keinen Lothar Wieler, keinen Christian Drosten, keine unabhängige Instanz, die das Pandemie-Geschehen für die Bevölkerung einordnet. Kurz und seine Kollegen legten nie offen, auf welche Expertisen sie sich stützen. Stattdessen war es stets der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober, der auch heute mit Infektionskurven auf A2-Zetteln hantierte, die kein Mensch mit bloßem Auge erkennen kann.

Corona ist vorbei, Corona ist nicht vorbei, Corona ist vorbei ...

Sebastian Kurz setzte ohnehin nicht auf Statistiken, sondern auf martialische Rhetorik: "Jeder wird jemanden kennen, der an Corona gestorben ist", sagte er im März, von 100.000 Toten sprach er, die es ohne den ersten Lockdown gegeben hätte. In der Bevölkerung kam das als Panikmache an. Zumal Kurz seine Botschaft immer wieder änderte: Am 13. Juni erklärte er Corona auf seinem Facebook-Account für beendet: "Nachdem wir die gesundheitlichen Folgen der Krise überstanden haben, müssen wir jetzt angesichts der Weltwirtschaftskrise die Konjunktur in Österreich wieder ankurbeln", schrieb er.

Zwei Monate später warnte er im Interview mit der "Krone" vor "besorgniserregenden Zahlen", nur um zwei Wochen danach "Licht am Ende des Tunnels" zu sehen. Sein Gesundheitsminister Anschober rief derweil in schöner Regelmäßigkeit die "entscheidenden Tage" aus - im April, im Mai, im Juni, im September, und auch zuletzt wieder.

Ampel-Chaos und Wahlkampf

Einschneidende Maßnahmen, für die Kurz immer gewesen sein will, setzte seine Regierung kaum um und oft erst zu spät. Zu sehen war das vor allem in der Bildung: Ohne sichtbares Konzept starteten die Schulen in das neue Schuljahr, ohne technische Lüftungssysteme, ohne FFP2-Masken für Lehrpersonal, ohne geteilte Klassen - nun werden sie geschlossen.

Die lange angekündigte "Corona-Ampel" löste in Deutschland Beifall aus, in Österreich nur Chaos. Wochenlang rangelte die politisch besetze Ampel-Kommission um die Schaltungen auf gelb oder orange. Faktisch blieben die Einstufungen folgenlos, weil die Bundesregierung an den Ländern vorbei im September bundesweite Maßnahmen verordnete. Mitten hinein in die Verwirrung stieß auch noch der Bildungsminister mit der Nachricht, die Schulen verfügten über eigene Ampeln, von denen vorher noch nie jemand gehört hatte. Selbst der anfängliche Orientierungscharakter der Ampel ist mit den steigenden Zahlen passé - seit Ende Oktober leuchtet ganz Österreich rot.

Zu allem Überfluss nutzte die ÖVP-geführte Regierung die Pandemie für den Wahlkampf: Vor den Wahlen in Wien im Oktober rügten der Kanzler und seine ÖVP-Kollegen in der Regierung auffallend laut die SPÖ-geführte Bundeshauptstadt, zu der Lage im ÖVP-regierten Ländern schwiegen sie. Seit die Wahlschlacht geschlagen ist, behandelt die Regierung Wien wieder wie jedes andere Bundesland.

Einen Kritikpunkt jedoch hat die Regierung ausgeräumt: Der zweite "richtige" Lockdown wird nicht am Parlament vorbei beschlossen. Der Hauptausschuss des Parlaments muss erst noch zustimmen, was als Formalie gilt. Zumindest SPÖ und die liberalen Neos haben ihre Zustimmung angekündigt, wenn auch, wie Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger sagte, "zum letzten Mal". Sie fordert, was Kurz und sein "virologisches Quartett" am Samstag noch nicht vorlegten: Einen klaren Plan, wie ein dritter Lockdown verhindert werden kann. Müsste der Bundeskanzler auch den verkünden, könnte er die Fragen nach seiner eigenen Verantwortung nicht mehr so einfach ignorieren.

Quelle: ntv.de

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