"Kündigungsschreiben an Ampel" Lindners Papier wird als Akt "nackter Verzweiflung" abgestempelt
01.11.2024, 18:27 Uhr Artikel anhören
Christian Lindner knöpft sich in seinem 18-seitigen Dokument die Ampelpartner vor.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das umfangreiche Grundsatzpapier von Christian Lindner sorgt für Chaos in der ohnehin bestehenden Regierungskrise. Die Opposition nennt es "absurd". Sogar "Kündigungsschreiben" wird das Dokument genannt. Die Grünen geben sich freundschaftlich, wollen mit dem Minister über die Forderungen diskutieren.
An dem von Christian Lindner erstellten Grundsatzpapier ist Kritik laut geworden. "Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik", fordert der Finanzminister darin etwa. Änderungen an der Schuldenbremse und neue Sondervermögen lehnt er dem Dokument zufolge ab. Jetzt äußern sich Regierungspartner, aber auch Oppositionelle zu dem Dokument.
Als "nackte Verzweiflung über eine ausweglose Finanzlage und eine desaströse Lage seiner Partei" betitelt Sebastian Brehm als finanz- und haushaltspolitischer Sprecher der CSU im Bundestag das Schreiben Lindners in einer Mitteilung. "Nun versucht er sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Lindner und die FDP sind aber nicht die Lösung des Problems. Sie sind Teil und Mitverursacher der Probleme, die das Land quälen. Auch sie haben diese Probleme 'vorsätzlich herbeigeführt'", schrieb Brehm weiter.
Ähnlich reagierte Julia Klöckner. "Es wird immer unübersichtlicher - jeder bringt sein Positionspapier raus, jeder hat seine eigenen Wirtschaftsrunden, aber nichts passt zusammen", sagte die CDU-Wirtschaftspolitikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Es ist einfach absurd und unwürdig für ein Land mit einer solchen Volkswirtschaft, wie seine Regierung sich benimmt." Sie forderte die Regierung auf, "endlich ins Machen" zu kommen, "oder der Kanzler beendet den Spuk". Es wäre "unverantwortlich", wenn man "die drei" einfach so weitermachen lassen würde.
"Kündigungsschreiben an die Ampel"
"Wir brauchen keine Opposition in der Regierung", wurde Martin Rosemann von der SPD beim "Tagesspiegel" forsch. "Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben." SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz schlug in der Zeitung vor, "die Kraft würde für die noch offenen Fragen im Bundeshaushalt 2025 verwendet werden".
"Das Papier liest sich wie ein Kündigungsschreiben Richtung Ampelpartner", beurteilte Unions-Vizefraktionschef Mathias Middelberg das Geschriebene gegenüber Reuters. "Es erinnert an das Lambsdorff-Papier von 1982, das zum Bruch der damaligen Regierungskoalition führte."
Als Regierungspartner gehen die Grünen offener an Lindners Vorschläge heran, obwohl der FDP-Politiker Forderungen stellte, die in der Ampel bislang als unverhandelbar galten. "Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren", erklärte der Parteivorsitzende Omid Nouripour gegenüber RTL/ntv. "Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden."
Das fordert Christian Lindner
Christian Lindner distanziert sich in dem Papier in Teilen von der gemeinsamen Politik der vergangenen drei Jahre mit SPD und Grünen. Probleme wie ein Investitionsstau, eine geringe Produktivität oder ein Sonderweg beim Klimaschutz seien in den vergangenen Jahren von der Politik nicht nur nicht adressiert, sondern zum Teil "vorsätzlich herbeigeführt" worden, schreibt Lindner. "Deshalb ist eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden."
Konkret schlägt der FDP-Chef etwa einen sofortigen Stopp aller neuen Regulierungen vor sowie einen Abbau von Nachweis- und Berichtspflichten auf ein notwendiges Minimum. Der Solidaritätszuschlag soll in einem ersten Schritt 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf drei Prozent gesenkt werden und 2027 ganz entfallen. Parallel sollte die Körperschaftssteuer 2025 um zwei Prozentpunkte reduziert und in weiteren Schritten 2027 und 2029 zusätzlich gesenkt werden. SPD und Grüne haben die völlige Abschaffung des Soli bisher abgelehnt. Allerdings wird dazu in Kürze ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erwartet.
Die zusätzlichen Kosten seiner Forderungen für den Bundeshaushalt 2025 beziffert der Finanzminister auf 4,5 Milliarden Euro für den Soli und 3,5 Milliarden für die abgesenkte Körperschaftssteuer. Nach der Steuerschätzung gebe es zudem verringerte Einnahmen von insgesamt 13,5 Milliarden Euro. Lindner pocht deshalb auf weitere Ausgabenkürzungen, weil sich gleichzeitig die zu erwartenden Ausgaben etwa für das Bürgergeld und die Kosten der Unterkunft (3,6 Milliarden Euro) sowie für die Förderung der Erneuerbaren Energie weiter erhöhen. Der "Zukunftshaushalt" 2025 müsse Bestandteil der Wirtschaftswende werden.
SPD und Grünen würden gern einen anderen Weg gehen, um die Haushaltslöcher zu stopfen und mehr Investitionen zu ermöglichen, nämlich über Sondervermögen oder eine teilweise Aussetzung der Schuldenbremse - was der FDP-Chef aber strikt ablehnt. SPD-Co-Chefin Saskia Esken hatte Lindner deshalb eine Mitschuld an der lahmenden Konjunktur gegeben.
Neuwahlen für Regierungssprecher kein Thema
Derzeit gibt es Spannungen in der Ampel-Koalition, die auch zu Spekulationen über ein vorzeitiges Ende und Neuwahlen geführt haben. Denn alle drei Koalitionspartner überdenken derzeit ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs und betonen - auch in Vorbereitung auf ihre Wahlprogramme - ihre Differenzen.
Turnusmäßiger Wahltermin ist der 28. September im kommenden Jahr. Dabei soll es Regierungssprecher Steffen Hebestreit zufolge bleiben. "Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer dabei ist, sich in die Büsche zu schlagen", sagte Hebestreit auf die Frage nach einem möglichen Koalitionsbruch. Man werde "konstruktiv die nächsten knapp elf Monate bis zum regulären Wahltermin für die nächste Bundestagswahl miteinander zusammenarbeiten".
Er teile den Eindruck, dass angesichts der Herausforderung durch den ungewissen Ausgang der US-Präsidentschaftswahl am Dienstag Stabilität im größten EU-Staat nötig sei. Hebestreit zeigte sich ähnlich wie Lindner gegenüber dem "Spiegel" optimistisch, dass sich SPD, Grüne und FDP noch auf den Haushalt 2025 einigen werden.
Quelle: ntv.de, mpa/rts