Halbzeit Mehrheit ist enttäuscht
22.11.2007, 07:13 UhrDie Wähler ziehen eine überwiegend kritische Halbzeitbilanz der großen Koalition. Zwei Jahre nach dem Regierungsantritt des schwarz-roten Bündnisses sagen 51 Prozent der Bundesbürger, die Koalition habe die in sie gesetzten Erwartungen bisher eher enttäuscht. Das ergab eine forsa-Umfrage für n-tv (19. und 20. November / 1.002 Befragte).
Allerdings sagen 32 Prozent, die große Koalition habe die Erwartungen bisher eher erfüllt. Das sind deutlich mehr als noch im Oktober 2006, als nur 13 Prozent die Erwartungen eher erfüllt sahen. Der Anteil der Bürger, die der Auffassung sind, die Koalition habe die in sie gesetzten Erwartungen eher enttäuscht, hatte im Oktober 2006 bei 71 Prozent gelegen.
Der Anstieg des Anteils derer, die die Erwartungen aktuell eher erfüllt sehen, betrifft die Wähler aller Parteien, wobei er bei den Anhängern der Union am stärksten ausfällt (+33 Prozent).
Huber sieht "großartige Erfolge"
CSU-Chef Erwin Huber meint, die Bilanz der großen Koalition sei "objektiv" sehr viel besser, "als sie von vielen wahrgenommen wird". Huber wies unter anderem darauf hin, dass es gelungen sei, den Marsch in den Schuldenstaat und den Verlust von Arbeitsplätzen zu stoppen, Überschüsse in den öffentlichen Finanzen zu erwirtschaften und 1,1 Millionen Menschen in Arbeit zu bringen. "Das sind großartige Erfolge, die nicht durch Hakeleien überschattet werden dürfen", sagte Huber der "Passauer Neuen Presse".
Allerdings führte Huber den Streit zwischen Union und SPD gleich fort, indem er den Koalitionspartner zur Mäßigung aufforderte. "Die schrille Begleitmusik aus der SPD ist absolut unpassend. Ich rate unserem Koalitionspartner eindringlich zur verbalen Abrüstung."
Für ein "etwas geschlosseneres Auftreten der großen Koalition" will der neue Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier (SPD) in den kommenden Wochen sorgen. Im ZDF betonte der Außenminister, der zugleich mit Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel Schlagzeilen gemacht hatte, "dass wir es uns nicht leisten können, die nächsten zwei Jahre Dauerwahlkampf gegeneinander zu führen".
Steinmeier zu Streit bereit
Er sei sich seiner neuen Verantwortung "sehr bewusst", sagte Steinmeier. Mit Blick auf die SPD betonte er allerdings auch: "Ich bin mir sicher, dass da, wo die Partei Profil zeigen muss, ich auch helfen werde, dieses Profil nach außen zu repräsentieren. Und manchmal gibt es auch Anlass dazu in der Koalition."
Zur Auseinandersetzung in der Koalition über die Außenpolitik nach dem Empfang des Dalai Lama durch Merkel sagte Steinmeier: "Das, worüber wir uns im Augenblick etwas auseinandersetzen, liegt eher daran, in welcher Tonalität man die Frage der Menschenrechte anspricht." Er könne nicht erkennen, dass hinsichtlich dieser Frage in früheren Regierungen irgendetwas unterblieben sei. Er wisse, dass diese Auseinandersetzung in der Koalition zu einem Ende gebracht werden müsse. "Und vor allen Dingen weiß ich um meine Verpflichtung, dass wir das Verhältnis zu Staaten wie China wieder auf die Reihe bringen müssen", sagte der Außenminister.
Mit Blick auf Merkels großes Engagement in der Außenpolitik sagte Steinmeier: "Ich weiß, dass Außenpolitik natürlich zuerst die Sache des Außenministers ist. Aber ich weiß genauso gut aus Erfahrung, dass der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin sich da nicht heraushalten kann."
Merkel bei n-tv: An einem Strang ziehen
In einem n-tv Interview ging Merkel nicht direkt auf Steinmeiers Kritik an ihr in der Außenpolitik ein. Die Kanzlerin plädierte in dem Gespräch für eine wertebezogene und auf die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands ausgerichtete Politik.
Insgesamt äußerte sie sich zuversichtlich über die Zusammenarbeit mit dem neuen Vizekanzler. In dem Interview zur Halbzeitbilanz der Regierung sagte die Bundeskanzlerin, sie habe sich ausführlich mit Außenminister Steinmeier über dessen neue Rolle unterhalten. Einigkeit bestehe darin, "an einem Strang und in die gleiche Richtung" zu ziehen.
Westerwelle mit Außenpolitik zufrieden
FDP-Chef Guido Westerwelle zog eine vernichtende Halbzeitbilanz des schwarz-roten Regierungsbündnisses. "Die große Koalition ist mit dem Anspruch angetreten, Großes zu bewirken. Groß waren nur die Steuererhöhungen", sagte er im ZDF. Westerwelle sprach von einer Regierung der verpassten Chancen, mit deren Sparkurs es nicht weit her sei. Die Koalition habe weiter Schulden aufgenommen anstatt strukturelle Reformen anzugehen, kritisierte der FDP-Chef. Zufrieden äußerte sich Westerwelle dagegen mit der Außen- und Europapolitik, wo Merkel die Menschenrechte wieder stärker betone.
Auch der Unternehmensberater Roland Berger warf der großen Koalition eine "Flucht aus der Verantwortung" vor. Beide Regierungspartner leisteten sich einen "Unterbietungswettbewerb reformerischen Eifers", sagte er dem Berliner "Tagesspiegel". Nach der Halbzeit der Wahlperiode sei "die beste Phase der Erneuerungen verstrichen". Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, warf der Koalition ebenfalls mangelnden Reformwillen vor. Sie habe ihre Aufgaben gemacht und das Budget endlich in Ordnung gebracht, sagte er dem "Handelsblatt". "Dass sie nun bei den Reformen die Rolle rückwärts macht, führt zu Abwertung von befriedigend auf ausreichend."
Merkels hatte zuvor eine positive Halbzeitbilanz gezogen. Sie lobte den Zusammenhalt in der Koalition. "In der großen Koalition haben wir uns viel besser kennengelernt. Mein Respekt vor den Fähigkeiten der anderen Seite ist durchaus gewachsen", sagte sie der "Bild"-Zeitung. Aus ihrer Sicht sei es klar, dass die große Koalition bis zur Wahl 2009 halten werde. "Ich stehe dafür ein, dass wir unseren Wählerauftrag ernst nehmen und weitere zwei Jahre sachorientierte Politik für die Bürger machen." Neuwahlen seien kein Thema. Allerdings gebe es um den Mindestlohn "in der Tat einen Grundsatz-Streit um die richtige Arbeitsmarktpolitik".
Quelle: ntv.de