Krista Sager im Gespräch Menschen wollen die Politik zurückerobern
23.10.2010, 09:25 Uhr
Krista Sager: Die Menschen müssen künftig frühzeitig an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein.
Krista Sager ist ein grünes Urgestein. Die Spitzenpolitikerin ist enthusiastisch und nachdenklich zugleich, wenn es um ihre Partei und deren Anliegen geht.
n-tv.de: Die Grünen liegen in der Wählergunst weiter vor der SPD. Worauf führen Sie das zurück?
Krista Sager: Die SPD befindet sich ja nun schon etwas länger in der Krise. An den Ursachen der Krisen hat sich nichts geändert. Wir Grüne haben dass Glück, dass unsere Kernkompetenzen an Bedeutung gewonnen haben. Immer mehr Menschen messen den Themen eine größere Bedeutung bei, bei denen den Grünen mehr Kompetenz zugewiesen wird: Klimaschutz und Umwelt. Diese Themen verschwinden auch nicht wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise von der Agenda.
Meinen Sie, neue Wähler gewonnen zu haben, oder sind das die berühmten Momentaufnahmen, auch wenn sie diesmal positiv sind?
Wir haben durchaus die Chance, neue Wähler an uns zu binden. Aber das kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht definitiv beantworten. Die Bindung von Menschen an Parteien wird immer loser. Manche identifizieren sich mit einer Partei zu 20 Prozent, zu zehn Prozent mit einer anderen. Je nachdem, welches Thema gerade wichtig wird, die Laufzeitverlängerung bei Atomkraftwerken oder Stuttgart 21, werden dann auch die Präferenzen verschoben. Wie lange das jeweils hält, ist immer schwerer vorhersehbar. Man muss sich halt anstrengen und Mühe geben.
Es gibt Spekulationen, dass Ihre Fraktionsvorsitzende Renate Künast Spitzenkandidatin der Grünen bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus wird.
Wir sind als Mitglieder der Fraktion gebeten worden, uns zu diesem Thema gar nicht zu äußern und auf die Pressestelle der Fraktion zu verweisen. Was ich hiermit getan habe. Ich habe ja auch keinen Grund, mich darüber hinwegzusetzen, nur weil Sie dieses Interview mit mir führen.
Und in Baden-Württemberg?
Man wird das Geschehen dort weiter beobachten müssen. Ich freue mich sehr über diese tolle Entwicklung der baden-württembergischen Grünen. Ich schätze Winfried Kretschmann (Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Landtag) sehr. Es ist gut, dass er einmal so in den Fokus gerückt wird. Aber für Prognosen ist es viel zu früh.
Alle reden von einem heißen Herbst. Aber man spürt kaum etwas davon.
Es gibt eine ganze Menge Bewegung zu Einzel- und lokalen Themen. Man merkt, dass die Menschen die Politik ein Stückweit zurückerobern wollen.
Ein Bahnhof wühlt Menschen auf. Hartz IV betrifft sechs Millionen Menschen, die Rente mit 67 ist ein bundesweites Problem, der Krieg in Afghanistan ein weltweites. Die Proteste dagegen stehen in einem genau umgekehrten Verhältnis zueinander.
Die Menschen haben das Gefühl, dass die große Politik immer komplexer wird, immer schwieriger zu beurteilen ist, immer mehr von globalen Tendenzen beeinflusst wird. Dort, wo sie glauben, Dinge besser beurteilen zu können, wo die Dinge sehr nah an ihren eigenen Wahrnehmungen sind, wollen sie nicht mehr einfach nur den Politiker vertrauen, denn die haben schon oft genug falsch gelegen.
Manch einer meint, der Widerstand gegen Stuttgart 21 wäre der Anfang von etwas viel Größerem.
Es gibt einen Wunsch der Menschen, Politik wieder in die eigene Hand zu nehmen. Ich glaube nicht, dass eine große, einheitliche Bewegung daraus wird. Wir müssen verstärkt darüber nachdenken, wie man den Wunsch, Politik wieder zu seiner eigenen Sache zu machen in eine größere Teilhabe an der Politik umwandeln kann. Formen der direkten Demokratie sind eine Möglichkeit, selbst wenn man dabei als Partei auch einmal verliert. Die Menschen müssen künftig frühzeitig an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Das ist die Herausforderung, vor der die Politik steht.
Ist der angeblich fehlende Wille zur Integration namentlich der islamischen Mitbürger tatsächlich ein Problem oder eine – für Krisenzeiten typische - Erscheinung, Minderheiten die Schuld zuzuweisen?
Wenn man einer Religionsgemeinschaft oder einer Ethnie per se fehlenden Integrationswillen unterstellt, wird Integration extrem beschädigt. Damit grenzt man diese Menschen bewusst aus und kocht so sein eigenes Süppchen. Das Problem ist doch: Wir haben eine Unterschicht, die sozial und wirtschaftlich schlecht integriert ist, an der Migranten einen großen Anteil haben. Wir müssen uns an die eigene Nase fassen und fragen: Zum Teil hat man Menschen ja bewusst nicht in den Arbeitsmarkt hineingelassen. Deutsche und EU-Ausländer haben nach Vorrangsprüfung die Arbeitsplätze erhalten, welche Migranten aus anderen Ländern hätten bekommen können. Da muss man Korrekturen vornehmen. Integration ist aber auch keine Einbahnstraße. Man kann von den Menschen auch etwas erwarten, statt sie einfach nur paternalistisch an die Hand zu nehmen. Es kommt jetzt eine junge Generation, die Menschen nicht danach bewertet, welche Hautfarbe sie haben oder woher sie oder ihre Eltern stammen, sondern sie individuell beurteilt. Für mich bedeutet Integration nicht, dass Menschen alles ablegen sollen, das mit ihrem Herkunftsland verbunden ist. Ich zum Beispiel hänge sehr am dänischen Teil meiner Familie, fahre sehr gern nach Dänemark. Niemand in den USA würde sagen, in Little Italy in New York oder in Chinatown in San Francisco wäre die Integration gescheitert. Das Thema Integration kocht aus deshalb so hoch, weil in den großen Volksparteien Richtungskämpfe ausgetragen werden.
Die Kanzlerin lässt sich in der Umkleidekabine mit dem türkischstämmigen Nationalspieler Mesut Özil ablichten, der Verteidigungsminister und seine Frau werden auf glänzenden Titelseiten auf Paarlauf ins Kanzleramt geschickt, der Bundespräsident und dessen Gattin als Patchworkfamilie zu Vorbildern stilisiert. „Verglamourt“ die Politik oder der Journalismus?
Die Medien stehen in einem Überbietungswettbewerb, millimeterdicht an Promis oder Halbpromis heranzukommen. Die Politik stellt sich darauf ein, wie Medien ticken. Es ist eine Gratwanderung, bei der man sehr darauf achten muss, dass man dabei nicht vom Grat herunterfällt. Ich freue mich für jeden, der eine schöne Frau an seiner Seite hat, für jede, die einen netten Mann hat. Am Ende aber müssen politische Erfahrung, Einstellungen und Kompetenzen im Vordergrund bleiben.
Quelle: ntv.de, Mit Krista Sager sprach Manfred Bleskin