Politik

Telefonat mit Gabriel Merkel greift in Migrationsdebatte ein

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(Foto: picture alliance / dpa)

Der Streit über sogenannte Armutsmigranten ist eine erste Prüfung für den Frieden in der Großen Koalition. Auch Kanzlerin Merkel sieht Handlungsbedarf und greift zum Telefonhörer. Mit Koalitionspartner Gabriel vereinbart sie, die Debatte in einem neuen Ausschuss zu versachlichen.

Seit Tagen dominiert der Streit um sogenannte Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien die innenpolitische Debatte. Von Kanzlerin Angela Merkel war dazu bisher nichts zu hören. Dabei bleibt es zunächst. Doch untätig will die CDU-Chefin offenbar nicht bleiben. Ihr Sprecher Georg Streiter teilte mit, Merkel habe über das Thema mit SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel telefoniert. Die beiden vereinbarten dabei, bei der Kabinettssitzung am kommenden Mittwoch einen Ausschuss aus zuständigen Staatssekretären zu bilden, um gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen.

Zugleich versuchte Merkel, den koalitionsinternen Streit über Armutszuwanderung und Freizügigkeit in Europa zu entschärfen. "Jeder, der lesen kann, wird feststellen, dass es inhaltlich keinen Unterschied gibt in den Koalitionsparteien. Keiner legt Hand an die Freizügigkeit, die zu den zentralen europäischen Errungenschaften zählt", sagte Streiter. Wer das kritisierte CSU-Papier mit dem umstrittenen Satz "Wer betrügt, der fliegt" ganz lese, werde feststellen, dass "auch dieses Papier den gleichen Geist atmet wie alle anderen Einlassungen".

Zuletzt hatten Politiker von CSU, CDU und SPD heftig über das Thema gestritten, es droht zum ersten ernsten Streitpunkt zu werden. Ein Sprecher von Außenminister Frank-Walter Steinmeier betonte, die Arbeitnehmerfreizügigkeit sei unverzichtbarer Teil der europäischen Integration. "50 Jahre europäische Integration (...), über eine Generation europäischer Binnenmarkt, sind eine riesengroße Erfolgsgeschichte. Und es schadet Deutschland und es schadet Europa, diese Erfolgsgeschichte in Frage zu stellen oder zu bestreiten." Der Außenminister habe aber nichts dagegen, existierende Mittel gegen Missbrauch zusammenzutragen.

Kommunen widersprechen CSU

SPD-Fraktionsvize Carola Reimann warf der CSU in der "Westdeutschen Zeitung" eine "ekelhafte" Doppelzüngigkeit vor. In den Koalitionsverhandlungen habe die Partei den Kommunen finanzielle Unterstützung verwehrt, um die Zuwanderung besser in den Griff zu bekommen. "Das ärgert mich."

Widerspruch kommt auch von den Kommunen. Die Vorschläge der CSU zur Entlastung bei den Hilfen für Zuwanderer gehen nach Einschätzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes an den eigentlichen Schwierigkeiten vorbei. "Das ist nicht das zentrale Problem", sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Gerd Landsberg. "Den Zusammenhang, der jetzt in der politischen Diskussion herstellt wird zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Armutszuwanderung, den sehe ich ehrlich gesagt nicht", sagte Landsberg.

Das zentrale Problem sei, wie die Kommunen vor Ort den Menschen helfen. "Ich würde mir sehr wünschen, wenn die CSU sich darauf konzentriert, einen entsprechenden Hilfsfonds für die betroffenen Kommunen zur Verfügung zu stellen", erklärte Landsberg. Die auch von der CSU herauf beschworenen neuen Belastungen durch die seit Jahresanfang geltende vollständige Öffnung des Arbeitsmarktes in der EU für Bürger aus Bulgarien und Rumänien kann der Städte- und Gemeindebund nicht erkennen. In Deutschland lebten derzeit rund 300.000 Menschen aus beiden Ländern, die überwiegend gut integriert seien, sagte Landsberg. Nur rund zehn Prozent würden Hartz-IV-Mittel beziehen.

Zoff in der CDU: Laschet contra Brok

Die Debatte hat zuletzt auch einen Keil zwischen die beiden Unionsparteien CDU und CSU getrieben. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok heimste Kritik ein, weil er zur Verhinderung mehrfacher Einreisen die Registrierung von Fingerabdrücken forderte. "Zuwanderer, die nur wegen Hartz IV, Kindergeld und Krankenversicherung nach Deutschland kommen, müssen schnell zurück in ihre Heimatländer geschickt werden", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament der "Bild"-Zeitung.

Die sozialen Probleme in Bulgarien und Rumänien könnten nicht über das deutsche Sozialsystem gelöst werden, so Brok weiter. Er betonte, die EU-Freizügigkeitsrichtlinie schließe sogenannten Sozialleistungstourismus ausdrücklich aus. "Wer länger als drei Monate in einem anderen EU-Staat leben will, muss eine Arbeit haben, selbstständig sein oder nachweisen, dass er über ausreichende Finanzmittel verfügt und krankenversichert ist", sagte Brok. Er forderte, Bürgermeister, Landes- und Bundespolitiker müssten die klare EU-Regelung "endlich konsequent anwenden".

Der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende und Bundesvize Armin Laschet kritisierte Broks Anregung. "Das sind Vorschläge, die nun wirklich nicht in ein offenes Europa passen", sagte er dem Radiosender WDR5. Gerade in Nordrhein-Westfalen "mit den vielen offenen Grenzen" könne man sich so etwas nicht wünschen.

Görner besorgt um Außenwirkung

Auch andere Politiker der CDU äußerten scharfe Kritik an der Forderung der CSU für schärfere Regeln bei der Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. "Das alles ist im Ganzen unstimmig und unsinnig", sagte CDU-Vorstandsmitglied Regina Görner der "Huffington Post". "Die CSU schürt damit das Vorurteil, dass es bereits massiv Einwanderung in die Sozialsysteme gebe. Die hält sich bisher aber in ganz engen Grenzen." Görner kritisierte auch die CSU-Devise "Wer betrügt, der fliegt": "So ein Slogan wird natürlich auch im Ausland im Gedächtnis bleiben."

Der Passus findet sich in der Beschlussvorlage für die Klausur der CSU-Bundestagsabgeordneten in Wildbad Kreuth. Die Christsozialen denken an eine dreimonatige Sperrfrist für Sozialhilfe und ein Wiedereinreiseverbot für ausgewiesene Betrüger. SPD und Opposition werfen der CSU Populismus vor. In der CDU war Parteivize Armin Laschet zwar mehrfach auf Distanz zu der CSU-Position gegangen, hatte die Schwesterpartei aber nicht direkt kritisiert.

Grünen-Chef Cem Özdemir warf der CSU Stimmungsmache vor. Die Partei versuche, vor den Kommunalwahlen in Bayern am 16. März "die Lufthoheit über die Stammtische zu bekommen", sagte Özdemir in der ARD. Er warnte davor, die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU infrage zu stellen. Zudem kritisierte er Angela Merkel. "Die Kanzlerin tut so, als ob sie das alles nichts angehen würde." FDP-Generalsekretärin Nicola Beer kritisierte in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Rundschau", der CSU-Slogan habe "nichts mehr mit einem seriösen Problemlösungsansatz oder einer wahlkampfbedingten Verkürzung der Botschaft zu tun".

Friedrich verteidigt CSU-Position

Bundesagrarminister Hans-Peter Friedrich von der CSU, bis vor kurzem noch für das Innenressort zuständig, verteidigte dagegen die Haltung seiner Partei. "Wer will, dass die Freizügigkeit und europäische Solidarität auch in Zukunft Akzeptanz findet, muss verhindern, dass sie missbraucht wird. Wir beschädigen die Freizügigkeit nicht, sondern wir schützen sie", sagte Friedrich der "Welt".

Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Max Straubinger, sagte der "Passauer Neuen Presse", die CSU benötige "keine Nachhilfe von der SPD". "Die Probleme, die durch Armutszuwanderung entstehen, müssen offen benannt und diskutiert werden." Sachsens CDU-Innenminister Markus Ulbig sprang der Schwesterpartei in der "Freien Presse" zur Seite: "Missbrauch der Freizügigkeit schadet der Akzeptanz der EU - das kann man verschieden formulieren, wird aber dadurch nicht falsch."

Nach aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) entfallen nur 0,6 Prozent der Gesamtausgaben für Hartz-IV-Leistungen auf arbeitslose Bulgaren und Rumänen. Zwischen September 2012 und August 2013 beanspruchten sie knapp 172 Millionen Euro. Die Gesamtausgaben liegen bei etwa 32 Milliarden Euro pro Jahr, wie die "Rheinische Post" unter Berufung auf die Daten der BA berichtet. Den Angaben zufolge liegt der Anteil der Leistungsbezieher unter den in Deutschland lebenden Bulgaren bei 14,8 Prozent und bei den Rumänen bei 7,4 Prozent.

Quelle: ntv.de, jog/mli/dpa/AFP

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