Kanzler zieht ZwischenfazitMerz: "Nicht zufrieden mit dem, was wir erreicht haben"

"Stadtbild"-Debatte, Wehrpflicht, AfD-Brandmauer, Asylpolitik und der Zwist in der Union um die Rentenreform: Die sieben Monate nach seiner Vereidigung zum Bundeskanzler sind für Friedrich Merz turbulent. Nun stellt sich der CDU-Chef im Ersten den Fragen des Publikums und gesteht auch Schwächen ein.
Wer tagsüber in London reüssiert und sich abends in einer ehemaligen Industriehalle in Niederkassel wiederfindet, kann sich im falschen Film wähnen - oder ist einfach nur Bundeskanzler. Nachdem er in England mit den Kollegen Selenskyj, Macron und Starmer über den umstrittenen US-Plan für Frieden in der Ukraine beraten hat, stellt sich Friedrich Merz am Abend, fast auf den Tag genau sieben Monate nach seiner Vereidigung, den Fragen des Studiopublikums im Ersten.
150 Leute sitzen in der so titulierten "Arena", nur wenige kommen in der nächsten Stunde zu Wort. Den Anfang macht ein Weinbauer, der von Merz wissen möchte, mit welchem Handwerker er sich am ehesten vergleichen würde. "Maurer", sagt der Kanzler, um auf Nachfrage auszuführen: "Wir müssen das Haus Bundesrepublik Deutschland renovieren." Er zählt die jüngsten Erfolge auf: In Brüssel haben sich die EU-Länder Stunden zuvor auf die Verteilung von Asylbewerbern geeinigt. In China hat der Außenminister die Versorgung mit seltenen Erden geregelt.
Ein junger Berufssoldat sagt offen, er könne angesichts der Weltlage nicht mehr sicher sein, alt zu werden. Merz dankt ihm für seinen Einsatz und erklärt mit Blick auf die Bundeswehr: "Wir wollen uns verteidigen können, damit wir uns nie verteidigen müssen." Der Applaus im Studio fällt überraschend kräftig aus. Er bleibt dabei: Wenn es gelinge, die Streitkraft mit Freiwilligen zu gewährleisten, freue er sich darüber, sagt Merz. Falls nicht, müsse man über die Wehrpflicht reden.
Als eine Dresdnerin vorschlägt, das Geld für Rüstung besser in Infrastruktur zu stecken, attestiert ihr der Kanzler eine "berechtigte Frage", schickt aber hinterher, dass Europa der Ukraine helfen müsse. Russland versuche, Staatsgrenzen durch Gewalt zu verschieben. "Ich möchte das nicht. Das Schicksal der Ukraine ist das Schicksal Europas."
Einen jungen Mann, der nicht einsieht, warum er für sein Heimatland kämpfen soll, obwohl es nicht für ihn kämpfe, erinnert Merz an die Bildungsmöglichkeiten. Deutschland sei "ein Land, in dem es sich lohnt, zu leben". Er verspricht dem Fragesteller, dass die geplante Rentenreform auch der jungen Generation gerecht werde. Da klatscht sogar der eben noch so skeptische Teenager.
"Die Arena" läuft ab wie ein Speed Dating: kurz vorstellen, eine schnelle Frage, das Gegenüber antwortet, der Nächste bitte. Beim Daten geht es darum, ob es matcht zwischen den Liebeswilligen, es werden Übereinstimmungen und Interessen abgeklopft, Sympathien ausgelotet. Deep Talk ist beim Speed Dating eher nicht vorgesehen, das muss bis zu eventuellen Folgetreffen warten.
Merz zeigt Selbstkritik
Das kommt dem Kanzler zugute. Er redet strukturiert und klar, kann glaubhaft seine Absichten vermitteln. Er skizziert eine rosige Zukunft, gesteht sogar Schwächen ein und zeigt Selbstkritik. Das kann beim Date anziehend wirken, auf politischer Bühne mindestens entwaffnend, bestenfalls authentisch. "Ich bin noch nicht zufrieden mit dem, was wir erreicht haben", sagt Merz über die ersten Monate seiner Kanzlerschaft.
Ein ehemaliger Schülersprecher aus Gelsenkirchen erzählt von Sorgen vor Migranten in seiner Heimat. Viele fühlten sich im Schwimmbad nicht mehr sicher. Geläutert durch die "Stadtbild"-Debatte, hebt Merz zunächst die Errungenschaften der Zuwanderung hervor. "Die Geschichte des Ruhrgebietes wäre nicht so geschrieben worden ohne Einwanderung." Ein cleverer Zug.
Diese Geschichte wolle er fortschreiben, Deutschland müsse ein offenes Land für alle bleiben, die sich integrieren und arbeiten wollten. Gleichzeitig zeige die Politik der schwarz-roten Regierung bereits Wirkung, die Zahl der Asylanträge habe sich halbiert. Wer hier leben wolle, müsse sich an Regeln halten. "Wenn sie es nicht tun, müssen sie gehen."
"Nichts mit Äußerlichkeiten zu tun"
Eine Medizinstudentin, die Kopftuch trägt, spricht Merz direkt auf die Stadtbild-Äußerung an. Besonders das Gesundheitssystem sei auf Menschen aus anderen Ländern angewiesen. "Ich hätte früher sagen sollen, was ich konkret damit meine", räumt Merz ein. Er spricht von Städten, die verwahrlosen, und betont, seine Aussage "hatte nichts mit Äußerlichkeiten zu tun".
Thematisch geht es Schlag auf Schlag, Merz betont, dass es nicht auf jede Frage eine einfache Antwort gebe. Bei der Reform der Rente seien dreißig Jahre versäumt worden, sagt der Kanzler, der beim aktuell diskutierten Vorschlag, den Renteneintritt nicht ans Alter, sondern die Beitragsjahre zu koppeln, der geplanten Rentenkommission nicht vorgreifen will. Im Gesundheitssystem, "dem zweitteuersten der Welt und nicht dem besten", stehe man vor einer "gewaltigen Aufgabe, das zu reformieren". Die zeitnahe medizinische Versorgung müsse unabhängig von der Versicherungsart sichergestellt werden.
"An keiner Stelle zusammenarbeiten"
Ein Teilnehmer fragt nach der Brandmauer zur AfD. "Ich werde mit dieser Partei an keiner Stelle zusammenarbeiten", versichert Merz. In fünf Bundesländern wird 2026 gewählt. Fraglich, wie seine Parteikollegen in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt das nach dem Wahltag sehen. In beiden Ländern steht die AfD in Umfragen bei rund 40 Prozent. "Diese Partei ist nur deswegen so groß geworden, weil wir nicht mehr gut genug waren", sagt Merz klar und nimmt neben seiner Partei auch die Sozialdemokratie in die Pflicht. "Ich möchte das mit der SPD zusammen stoppen."
In den meisten Fragen kommt der Kanzler über die bloße Bestandsaufnahme und Absichtserklärungen nicht hinaus - und muss es auch nicht. Merz skizziert die Richtung, in die es gehen soll (Stichwort: Leistungsbereitschaft), für die konkrete Aufarbeitung der zahlreichen und komplexen Aufgaben ist das Format aber schlicht ungeeignet. So muss man diesem charmanten Date einfach glauben - und darauf hoffen, dass sich seine Versprechen bis zum Wiedersehen nicht als heiße Luft entpuppen.