Expertin zum Terroranschlag "Moskau ist für den ISKP nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen"
25.03.2024, 20:04 Uhr Artikel anhören
Nach dem Anschlag auf eine Konzerthalle in Moskau sind elf Verdächtige festgenommen worden. Der IS reklamiert die Attacke für sich.
(Foto: Sergei Vedyashkin/Moscow News Ag)
Zu dem schweren Terroranschlag in Moskau bekennt sich der afghanische Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat. Afghanistan-Expertin Ellinor Zeino hält das für glaubwürdig und erklärt im Interview mit ntv.de die Hintergründe. Sie hat seit längerem mit Anschlägen gerechnet und warnt vor Attacken auch in Deutschland, etwa während der Fußball-Europameisterschaft.

Dr. Ellinor Zeino hat für die Konrad-Adenauer-Stiftung mehrere Jahre in Kabul gelebt und leitet das Südwestasien-Programm seit der Rückkehr der Taliban vom usbekischen Taschkent aus. Sie ist außerdem Mitglied der Enquete-Kommission "Lehren aus Afghanistan" des Bundestages.
(Foto: Mary Papadopoulou)
ntv.de: Frau Zeino, eine IS-Gruppe aus Afghanistan hat sich zu dem Anschlag in Moskau bekannt. Halten Sie das für glaubwürdig?
Ellinor Zeino: Ich halte das durchaus für glaubwürdig und zutreffend. Ich habe seit der Taliban-Machtübernahme in Afghanistan erwartet, dass die Organisation "Islamischer Staat Khorasan-Provinz" ihre Angriffe ausdehnen wird, auch außerhalb Afghanistans. Ich hatte allerdings vermutet, dass das eher in den Nachbarländern und der Region geschieht. Dass sie auch Ziele außerhalb Afghanistans im Blick hat, ist aber seit Jahren bekannt. Ihr Potenzial ist schon lange sehr groß. Die Frage war nur, wann es passieren würde.
Was ist das für eine Gruppe?
Der Islamische Staat ist eine streng-salafistische, sunnitische Organisation und kommt aus der Levante, also vor allem aus Syrien und dem Irak. Der lokale Ableger in Afghanistan wurde 2015 gegründet und kontrollierte in den Jahren danach phasenweise ganze Landstriche. Dann wurde die Organisation aber von den Taliban und den westlichen Truppen zurückgedrängt. Ab 2020 verübte sie große Anschläge gegen die schiitische Minderheit der Hazara, internationale Einrichtungen und kritische Infratruktur, zum Beispiel 2021 auf den Kabuler Flughafen, während der großen Evakuierungsaktion. Zuletzt wurde es ruhiger. Man hatte aber das Gefühl, die sammeln sich bloß. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Was unterscheidet den ISKP vom IS?
Ein wichtiger Unterschied ist, dass er kaum ausländische Kämpfer hat. Das sind vor allem Afghanen aus der ethnischen Gruppe der Tadschiken. Sie rekrutieren also nicht Kämpfer aus der ganzen Welt, wie das bei den anderen Ablegern des Islamischen Staats üblich war. Das wurde bislang auch nicht als Ziel formuliert. In der Rhetorik hatte man den Schwerpunkt eher auf lokale Missstände gelegt und keinen globalen Dschihad erklärt.
Warum wurde Russland zum Ziel?
Das kann ich nur vermuten. Russland ist neben den Taliban ein nächstmöglicher Feind. Es unterhält mit den Taliban eine zunehmend enge sicherheitspolitische Kooperation zur Bekämpfung dschihadistischer Gruppen und insbesondere des Islamischen Staats. Im März hatten die Taliban einen Militärattaché nach Moskau entsendet, der stellvertretende Außenminister der Taliban war ebenso jüngst in Russland zu Besuch. Zudem unterhält Russland seit langem Militärbasen an der afghanisch-tadschikischen Grenze zur Bekämpfung von dschihadistischen Gruppen und Drogenhandel. Russland wird daher als ein weiterer „ungläubiger Feind“ gesehen, den es aufgrund seiner sicherheitspolitischen Präsenz in der Region konkret zu bekämpfen gilt.
Im Fluchtauto sollen ja tadschikische Pässe gefunden worden sein. Warum sind diese Männer so gewaltbereit?
Es hat in den vergangenen Jahren eine ethnische Spaltung des Konflikts innerhalb Afghanistans stattgefunden. Die paschtunisch dominierten Taliban schaffen es nicht mehr, große Teile der nicht-paschtunischen Gesellschaft, insbesondere der Tadschiken, politisch einzubinden oder wirtschaftliche Perspektiven zu bieten. Innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen ist für manche der ISKP attraktiv geworden. Der Iokale IS-Ableger ist heute der größte militante Herausforderer der Taliban-Regierung. Es ist die schlagkräftigste bewaffnete Gruppe im Land. Der ISKP ist aber auf absehbare Zeit nicht in der Lage, das Taliban-Regime zu gefährden. Dafür sitzen die Taliban zu fest im Sattel und üben eine landesweite Kontrolle aus. Der ISKP verübt Anschläge, kontrolliert aber seit 2018 keine zusammenhängenden Gebiete mehr in Afghanistan. Der ISKP wirft selbst den Taliban vor, ungläubig zu sein und nicht die reine Lehre zu vertreten.
Der Kreml spricht von angeblichen Verbindungen der Terroristen in die Ukraine. Was ist davon zu halten?
Das kann eine Falschbehauptung sein. Denkbar ist allerdings, dass der Anschlag logistisch über die Ukraine abgewickelt worden ist. Das muss nicht mit dem Wissen der ukrainischen Behörden geschehen sein. Wir haben auch in Afghanistan gesehen, dass Länder im Kriegszustand nicht mehr die Kontrolle darüber haben, wer sich im Land aufhält und welche Waffen ins Land kommen. Es kann also durchaus sein, dass die Terroristen den Anschlag von ukrainischem Staatsgebiet aus geplant und durchgeführt haben. Das muss aber eben nicht heißen, dass die ukrainische Regierung oder der Geheimdienst etwas damit zu tun hatte.
Die Terroristen versuchten nach ihren Morden zu fliehen und wollten offenbar nicht als Märtyrer sterben. Einer soll ausgesagt haben, ihm sei Geld versprochen worden. Ist das nicht ganz untypisch für religiös-verblendete islamistische Terroristen?
Nicht unbedingt. Es gibt natürlich so stark indoktrinierte und gehirngewaschene Menschen, dass sie tatsächlich den Märtyrer-Tod sterben wollen. Aus meiner Erfahrung in Afghanistan weiß ich aber, dass es sehr, sehr schwer und sehr teuer ist, einen Menschen in diesen Zustand zu versetzen und zu halten. Das erfordert meistens Drogen, massiven Druck und Geldversprechungen an die Familie. Das heißt, es gibt immer auch Kämpfer und Attentäter, die darauf hoffen, einen Anschlag zu überleben.
Auch in Deutschland ist die Terrorgefahr erhöht, wie Innenministerin Nancy Faeser herausgestellt hat. Sind die möglichen Terroristen schon da?
Die Terrorgefahr ist tatsächlich groß. Wir haben vor Weihnachten gesehen, dass mehrere Anschläge auf Weihnachtsmärkte verhindert wurden. Die wurden mutmaßlich auch vom ISKP geplant. Das sind Gefährder, die nach der Taliban-Machtübernahme mit der Evakuierungswelle unerkannt nach Europa gelangen konnten. Es könnten aber auch noch weitere kommen. Wir haben auch gesehen, dass die deutsche Botschaft in Pakistan ihr Aufnahmeprogramm für mehrere Monate ausgesetzt hatte, weil es Hinweise auf Gefährder unter den Aufzunehmenden gab.
Kann man denn die Gefährder herausfiltern?
Das Programm in Pakistan ist wieder aufgenommen worden. Es wurde ein neues Sicherheitsteam unter anderem mit Mitarbeitern des BKA aufgebaut, um eine Gefährder-Prüfung durchzuführen. Bis dahin war das Verfahren anscheinend löchrig. Die überwiegende Mehrheit der Afghanen in Deutschland ist weder radikal noch militant und kann mit dieser Ideologie gar nichts anfangen. Aber es reicht ja eine Person, um großen Schaden anzurichten. Gefährder können zudem auch über andere Routen nach Deutschland kommen, nicht nur über das Aufnahmeprogramm. Wir werden das nicht vollständig kontrollieren können. Viele sind bereits in Deutschland und Europa, von denen wir nicht wissen, welche Intentionen sie haben. Das Potenzial ist da. Eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann es einigen gelingt, auch bei uns zuzuschlagen.
Es gibt große Befürchtungen, dass es während der Fußball-EM in diesem Sommer zu einem Anschlag kommen könnte. Ist das ein Paradeziel?
Das wäre zumindest ein denkbares weiches Ziel, bei dem man möglichst viele Zivilisten treffen und möglichst viel internationales Aufsehen erregen könnte. Aber prinzipiell sind alle großen Menschenansammlungen ein potenzielles Ziel.
Das hört sich so an, als ob die Zeit der großen Terroranschläge wieder kommt, wie wir sie vor zehn und mehr Jahren noch hatten.
Allen Experten war klar, dass uns das Thema wieder einholen wird. Die Aufmerksamkeit für Afghanistan war in den vergangenen Jahren weg. Jetzt ist das Land fast zu einem blinden Fleck geworden. Wir bekommen von dort kaum noch Informationen, weil wir kaum noch Leute vor Ort haben. Eigentlich wäre das auch für unsere Sicherheit wichtig. Uns fehlt das Wissen. Das macht mir am meisten Sorgen. Ich glaube, es wird wieder vermehrt Anschläge geben. Denn die Probleme und Ursachen sind nicht aus der Welt. Die relative Ruhe der letzten Jahre war möglicherweise eine Ruhe vor neuen unruhigen Zeiten. Moskau ist für den ISKP nur ein Zwischenschritt auf dem Weg nach Westen.
Mit Ellinor Zeino sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de