Der Kriegstag im Überblick Moskau veröffentlicht Toten-Liste - MI6-Chef spottet über russische Streitkräfte
30.07.2022, 21:10 Uhr
Diese Schule in Charkiw wurde bei einem mutmaßlich russischen Raketenbeschuss schwer beschädigt.
(Foto: REUTERS)
Die Aufarbeitung des Angriffs auf ein Lager mit ukrainischen Kriegsgefangenen dauert an. Kiew und Moskau überziehen sich gegenseitig mit Vorwürfen. Erste Zweifel an der russischen Darstellung werden laut. Unterdessen teilt der Chef des britischen Geheimdienstes MI6 öffentlichkeitswirksam mit, was er von Putins Armee hält. Der 157. Kriegstag im Überblick.
Kiew: Feind schwere Verluste zugefügt
Die russische Armee hat nach ukrainischen Angaben im Süden und Osten der Ukraine mehrere Städte unter heftigen Beschuss genommen. Der Generalstab in Kiew meldete eine Vielzahl von russischen Angriffen, darunter in den Gebieten Charkiw und Mykolajiw. Im Gebiet Donezk seien dem Feind schwere Verluste zugefügt worden, teilte der Generalstab mit. Die russischen Streitkräfte bestätigten, dass im Gebiet Charkiw ein ukrainischer Stützpunkt mit "Iskander"-Raketen bombardiert worden sei. In der gleichnamigen Großstadt gingen nach Angaben örtlicher Behörden am frühen Morgen drei S-300-Raketen auf eine Schule nieder.
Bei den Kämpfen um die ukrainische Stadt Cherson wurden der Regierung in Kiew zufolge Dutzende russische Soldaten getötet. Zudem seien zwei russische Munitionslager zerstört worden, teilte das ukrainische Militär mit. Nach einer Unterbrechung der Zugverbindung in die von Russland kontrollierte Stadt über den Fluss Dnipro seien die Truppen dort nun noch weiter isoliert. Die Ukraine will die strategisch wichtige Stadt im Süden des Landes zurückerobern.
Moskau veröffentlicht Liste getöteter Kriegsgefangener
Einen Tag nach dem Angriff auf ein Lager mit ukrainischen Kriegsgefangenen veröffentlichte Russlands Verteidigungsministerium unterdessen eine Liste mit Namen von 50 Toten und 73 Verletzten. Laut russischer Darstellung wurde bei dem Angriff mit einem Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS der Großteil der 193 Kriegsgefangenen in Oleniwka im Gebiet Donezk getötet oder verletzt. "Die gesamte politische, strafrechtliche und moralische Verantwortung für das Blutbad an den Ukrainern trägt persönlich Selenskyj, sein verbrecherisches Regime und Washington als Unterstützer", teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Kiew betont dagegen, dass das Kriegsverbrechen auf das Konto Moskaus gehe. Staatschef Wolodymyr Selenskyj kündigte "Vergeltung"an. US-Außenminister Antony Blinken drückte in einem Telefonat am Wochenende seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba sein Beileid aus.
Erste Analysen von Bildern und Videos wecken Zweifel an der russischen Version. "Das verfügbare optische Material scheint die ukrainische Darstellung eher zu stützen als die russische", schrieb das US-Institut für Kriegsstudien (ISW), ohne sich endgültig festzulegen. Zu den Zweifeln an der russischen Version gehört, dass es keine Zeugen für den Anflug der angeblichen ukrainischen Rakete gibt. Es seien auch nur Gefangene und keine Wachleute aus der sogenannten Volksrepublik Donezk getroffen worden. Die Schäden an dem Lager und die Brandverletzungen der Opfer deuteten zudem auf eine andere Art von Bombe hin.
Russische Botschaft provoziert mit Tweet
Kurz nach dem Angriff auf das Gefangenenlager sorgte die russische Botschaft in Großbritannien mit einer Äußerung zu Kämpfern des ukrainischen Asow-Regiments für Entsetzen. Die diplomatische Vertretung schrieb auf Twitter, Asow-Kämpfer verdienten keine Exekution "durch ein Erschießungskommando", sondern einen "erniedrigenden Tod" etwa durch Erhängen, da es "keine echten Soldaten" seien. Die ukrainische Regierung reagierte empört. Den Tweet sollten all diejenigen lesen, die "sagten, dass Russland nicht isoliert werden soll", schrieb der Sprecher des Kiewer Außenministeriums, Oleg Nikolenko, auf Twitter. Russland sei ein "Terrorstaat", im 21. Jahrhundert könnten "nur Wilde und Terroristen" auf diplomatischer Ebene sagen, dass Menschen den Tod durch Erhängen verdienten, schrieb der Kabinettschef Selenskyjs, Andryj Jermak, auf Telegram.
In der Haftanstalt von Oleniwka sollen sich auch viele Asow-Kämpfer befunden haben. Sie hatten sich im Mai nach erbitterten Gefechten um das Asow-Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol den russischen Truppen ergeben. Das Asow-Regiment ist eine ehemals rechtsextreme Einheit, die inzwischen in die ukrainische Armee integriert wurde. Russland betrachtet das Regiment als neonazistische Organisation.
MI6-Chef spottet über Russen, denen die Puste ausgeht
Angesichts der massiven Verluste auch auf Seiten der russischen Armee hagelte es unterdessen Spott vom Chef des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6. "Ihnen geht die Puste aus...", twitterte Richard Moore. Dabei zitierte er einen Tweet des britischen Verteidigungsministeriums vom Vortag. "Der Kreml verzweifelt. Russland hat Zehntausende Soldaten verloren und nutzt Waffen aus der Sowjetzeit. Ihre veralteten Raketen töten und verletzen unschuldige Ukrainer", schrieb die Behörde da. "Russland wird diesen ungerechtfertigten Krieg nicht gewinnen."
Der sonst für seine Verschwiegenheit bekannte MI6 zeigt sich seit Beginn des russischen Kriegs deutlich transparenter, Geheimdienstchef Moore sucht immer wieder die Öffentlichkeit. Zudem veröffentlicht das britische Verteidigungsministerium täglich aktuelle Geheimdiensterkenntnisse zum Kriegsverlauf. London will damit Angaben aus Moskau entgegnen. Auch der ehemalige Chef des US-Auslandsgeheimdiensts CIA, David Petraeus, betrachtet es als "immer wahrscheinlicher, dass die ukrainischen Streitkräfte einen Großteil, wenn nicht sogar alle Gebiete zurückerobern könnten, die in den letzten Monaten von den russischen Streitkräften eingenommen wurden". Voraussetzung dafür sei weitere westliche Unterstützung der Ukraine "im derzeitigen Tempo", sagte er der "Bild"-Zeitung. Einen militärischen Erfolg Russlands halte er hingegen für "sehr unwahrscheinlich".
750 Soldaten bei transatlantischer Militärübung
Ihre eigenen militärischen Fähigkeiten stellten die britischen und amerikanischen Streitkräfte in einer gemeinsamen Militärübung mit dem künftigen NATO-Mitglied Finnland unter Beweis. Insgesamt nahmen 750 Soldaten an der viertägigen Übung "Vigilant Fox" (Wachsamer Fuchs) in dem nordeuropäischen Staat teil, darunter 150 britische Mitglieder von Heer und Luftwaffe, wie das Verteidigungsministerium in London mitteilte. Die britischen Truppen, die ansonsten im NATO-Mitgliedsland Estland stationiert sind, seien mit Chinook-Hubschraubern ins westfinnische Niinisalo geflogen worden. "Die Übung 'Vigilant Fox' hat die Stärke und Kompatibilität unserer Streitkräfte mit denen der US- und finnischen Verbündeten bewiesen sowie unseren Einsatz für die Verteidigung und Sicherheit der Ostseeregion bekräftigt", sagte der britische Staatssekretär James Heappey.
Gazprom beliefert Lettland nicht mehr
Einem anderen Ostseeanrainer drehte der russische Energiekonzern Gazprom nach eigenen Angaben das Gas ab: Die Lieferungen nach Lettland würden eingestellt, teilte das Unternehmen mit und verwies in einem Telegram-Eintrag auf "Verstöße gegen die Bedingungen für die Gasentnahme". Das lettische Speicherunternehmen Conexus Baltic Grid erklärte hingegen, andere russische Unternehmen lieferten weiter Gas. Westliche Staaten werfen Russland vor, seine Energielieferungen als wirtschaftliche Waffe zur Vergeltung westlicher Sanktionen wegen des Militäreinsatzes in der Ukraine zu reduzieren.
Die baltischen Staaten hatten ihrerseits laut Conexus bereits am 1. April aufgehört, russisches Gas zu importieren. Am Freitag hatte dann der lettische Gashändler Latvijas Gaze nach eigenen Angaben wieder begonnen, Gas aus Russland einzukaufen - nannte allerdings den Lieferanten nicht und betonte, die Lieferungen gemäß den EU-Sanktionen gegen Russland in Euro bezahlt zu haben. Laut offiziellen, von Conexus veröffentlichten Daten über den Gasfluss war die Gasliefermenge seit dem 21. Juli stark angestiegen - bis der Fluss am Freitag plötzlich versiegte.
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Quelle: ntv.de, fzö/dpa/AFP/rts