Grüne muss Beleidigungen dulden Politiker empört über Künast-Urteil
20.09.2019, 08:30 Uhr
"Wohin geht die Gesellschaft, wenn all solche Äußerungen als zulässige Meinungsäußerung ertragen und erlitten werden müssen?", fragt Renate Künast.
(Foto: imago images/Metodi Popow)
"Dieses fatale Urteil, welches eines Rechtsstaats unwürdig ist, berührt uns alle." Politiker verschiedener Parteien sind fassungslos. Die Bundestagsabgeordnete Künast kann nichts gegen Beleidigungen auf Facebook unternehmen. Ein Berliner Gericht weist ihr Anliegen ab.
Dass die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast weiterhin Beschimpfungen über sich ergehen lassen muss, hat bei mehreren Politikerinnen Unverständnis ausgelöst. Künast war vor dem Berliner Landgericht mit dem Versuch gescheitert, gegen Beleidigungen von Facebook-Nutzern vorzugehen.
"Dieses fatale Urteil, welches eines Rechtsstaats unwürdig ist, berührt uns alle", sagte die FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Sprache sei nicht nur Kommunikation, sondern Ausdruck von respektvollem, kultiviertem Miteinander. "Wenn diese Kultur nicht mehr juristisch geschützt wird, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis den Worten Gewalt folgt."
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt erklärte: "Bei allem Respekt vor unseren Gerichten: Was Renate Künast hier an widerlichen Beleidigungen erhalten hat, sollte niemand ertragen müssen." Meinungsfreiheit habe Grenzen, wenn zu Gewalt gegen Personen aufgerufen oder widerliche Hetze betrieben werde.
Kipping: Das muss aufhören
Auch Grünen-Chef Robert Habeck kann die Entscheidung des Berliner Landgerichts nicht nachvollziehen. "Das sind übelste sexualisierte Gewaltaufrufe gewesen", sagte er im n-tv Frühstart. "Wir wissen inzwischen, dass aus gewaltbereiter Sprache wirkliche Gewalt wird, also dass aus dem Appell zu jagen, wirkliche Jagd auf Menschen wird." Menschen würden ermordet, weil die Sprache dazu einlade, das zu tun.
"Wenn das alles hinzunehmen ist, also wenn das normaler Diskurs ist, den man ertragen muss, dann frage ich mich, wo die Grenze des Unnormalen beginnt", sagte Habeck weiter. "Ich glaube, dass wir energischer, klarer gegen die Verrohung der Sprache im politischen Raum, aber auch im gesellschaftlichen Raum vorgehen müssen." Das sei bei der Entscheidung des Gerichts unterblieben.
Linksparteichefin Katja Kipping sagte: "Diese Form von Hass wird noch immer zu sehr verharmlost." Das müsse aufhören. Die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Maria Wersig, sagte, Gewaltschutz sei ein Thema, das alle Ebenen des Staates angehe. "Und wir reden bei den genannten Beispielen verbaler Übergriffe über nichts anderes als über Gewalt."
Rechter Netzaktivist bringt Stein ins Rollen
Unbekannte hatten Künast unter anderem als "Stück Scheiße" und "altes grünes Dreckschwein" bezeichnet und noch drastischere und auch sexistische Posts geschrieben. Laut einem Beschluss des Landgerichts Berlin, stellen entsprechende Kommentare "keine Diffamierung der Person der Antragstellerin und damit keine Beleidigungen" dar.
Nach einem Bericht der "Berliner Morgenpost" hatte das Landgericht am 9. September entschieden, bei Facebook auf Künast gemünzte Kommentare wie "Drecks Fotze" bewegten sich "haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch Hinnehmbaren". Auch Äußerungen wie "Knatter sie doch mal so richtig durch, bis sie wieder normal wird" seien als "mit dem Stilmittel der Polemik geäußerte Kritik" gewertet worden.
Alle insgesamt 22 Kommentare in dem sozialen Netzwerk entstanden der Zeitung zufolge als Reaktion auf einen Post des rechten Netzaktivisten Sven Liebich vom 27. März. Dieser berief sich wiederum auf einen Artikel in der "Welt am Sonntag" von Mai 2015, in dem es um eine Äußerung Künasts aus dem Mai 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus geht.
Seinerzeit redete eine grüne Fraktionskollegin zum Thema häusliche Gewalt. Ein CDU-Abgeordneter stellte die Zwischenfrage, wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, die Strafandrohung wegen sexuellen Handlungen an Kindern solle aufgehoben werden. Künast rief dazwischen: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!" Bereits die "Welt am Sonntag" stellte die Frage: "Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?" Künast hatte das als Missverständnis zurückgewiesen.
"Schwerste Beleidigungen, die jedes Maß überschreiten"
Auch ihr Anwalt Severin Riemenschneider betonte, mit ihrem damaligen Zwischenruf habe Künast nur die falsche Wiedergabe des NRW-Beschlusses der Grünen richtigstellen wollen. Laut "Berliner Morgenpost" nahm der rechte Netzaktivist Sven Liebich in einem mittlerweile gelöschten Beitrag Bezug auf den Zwischenruf und postete den Künast-Zwischenruf mit einer eigenen Ergänzung: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt." Die weiteren Kommentare mit den Beschimpfungen posteten User auf Liebichs Seite.
Das Berliner Landgericht begründete seinen Beschluss auch damit, dass die Öffentlichkeit Künasts Einwurf als Zustimmung zu dem Beschluss der NRW-Grünen wahrgenommen habe. "Von einer Schmähung kann nicht ausgegangen werden, wenn die Äußerung in dem Kontext einer Sachauseinandersetzung steht." Riemenschneider sagte, unter den Posts seien "schwerste Beleidigungen, die jedes Maß überschreiten".
Künast wollte vor dem Landgericht erreichen, dass Facebook die personenbezogenen Daten der Urheber herausgibt, um zivilrechtliche Schritte einleiten zu können. Dies lehnte das Gericht ab. Die Grünen-Politikerin zeigte sich darüber "sehr irritiert". Sie sagte den RND-Zeitungen: "Ich verstehe nicht, dass vollkommen zusammenhanglose Äußerungen von der Kammer so belanglos als zulässige Meinungsäußerungen qualifiziert werden." Sie habe den Eindruck, dass sich das Landgericht mit der Problematik überhaupt nicht auseinandergesetzt habe, sodass faktisch auch der Zivilrechtsweg verhindert sei.
Die 63-Jährige stellte die Frage: "Wohin geht die Gesellschaft, wenn all solche Äußerungen als zulässige Meinungsäußerung ertragen und erlitten werden müssen?" Solche massiven Abwertungen gefährdeten die Demokratie. "Denn wer soll sich angesichts dessen noch ehrenamtlich oder politisch engagieren?"
Quelle: ntv.de, fzö/dpa/AFP