In Putins Visier Gotland rüstet auf
30.10.2022, 10:15 Uhr
Im Juni fand auf Gotland die Militärübung "BaltOps 22" statt.
(Foto: picture alliance / AA)
Der mutmaßliche Sabotageakt an den Nord-Stream-Pipelines hat die Verwundbarkeit von kritischer Infrastruktur in der Ostsee verdeutlicht. Die schwedische Insel Gotland wappnet sich gegen "unkonventionelle Bedrohungen".
Die Gefahr einer unkonventionellen Militäroperation Russlands, die Gotland betreffen würde, sei nicht auszuschließen, sagt Oberst Magnus Frykvall, Kommandeur des auf der schwedischen Insel stationierten Regiments P18. "Das würde gut ausgebildete Kräfte, Spezialeinheiten oder Hightech-Waffen erfordern. Aber ich meine, es ist möglich."
Wir treffen den 47-Jährigen in Suderbys Herrgård, einem idyllischen, zum Hotel umgebauten Herrenhaus aus den 1820er-Jahren, das von Kastanienbäumen umgeben ist und nur wenige Kilometer vom Truppenübungsplatz Tofta Skjutfält entfernt liegt. Dort fand im Juni die Militärübung "BaltOps 22" statt, in der schwedische und NATO-Truppen gemeinsam trainierten. In der Fahrzeughalle am Truppenübungsplatz stehen neben den Panzern Leopard 2 A5 SE ("Stridsvagn 122") auch die leichteren gepanzerten Kampffahrzeuge 90 (Stridsfordon 90).
Schweden hat 2018 mit der Stationierung des Regiments P18 wieder eine ständige Militärpräsenz auf Gotland aufgebaut. Sie wurde nach dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine drastisch aufgestockt. "Unser Militärbudget für dieses Jahr liegt zwischen 150 und 200 Millionen schwedischen Kronen", das sind umgerechnet 13 bis 18 Millionen Euro. "Das meiste davon wird für Militärübungen ausgegeben", sagt Oberst Frykvall. "Dazu kommen noch Investitionen in militärische Ausrüstung."
"Ein klares Warnsignal"
Vom schwedischen Gotland bis zum dänischen Bornholm, wo die Lecks an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 entdeckt wurden, sind es rund 358 Kilometer Luftlinie. Der Hafen von Slite im Osten Gotlands wurde zwischen 2010 und 2012 für die Verschiffung von Rohren für den Bau von Nord Stream 1 genutzt. Die Gemeinde Gotland wollte später dasselbe für den Bau von Nord Stream 2 tun. Die Regierung in Stockholm war jedoch weitsichtiger als die in Berlin: Sie hatte Bedenken, dass dies Schwedens Verteidigungsinteressen schaden würde, und die Pläne wurden gestrichen.
Mit der Wahl des Ortes und des Zeitpunkts für die mutmaßliche Sabotage an Nord Stream 1 und 2 sollte ein klares Signal an Schweden und Dänemark gesendet werden, so die Einschätzung von Stefan Lundqvist, einem Militärexperten an der schwedischen Verteidigungsuniversität. Der mutmaßliche Angriff hätte auch weiter draußen in der Ostsee stattfinden können, was aber nicht der Fall war, so der Experte. Dies sei ein deutlicher Hinweis auf die Verwundbarkeit nicht nur der schwedischen Energieinfrastruktur, sondern auch der Strom- und Kommunikationskabel sowie der Unterwasserinfrastruktur. Gotland ist für seine Stromversorgung auf Kabel vom Festland angewiesen. Die beiden Verbindungen, die heute noch in Betrieb sind, wurden 1983 und 1987 verlegt. Es gibt Pläne, ein drittes Kabel zu verlegen.
"Russland wird in der Ukraine weiterhin mit konventionellen Mitteln geschwächt. Das politische Narrativ im Kreml wird also immer stärker, und die Drohungen werden immer umfassender", sagt Lundqvist. Wenn die Situation weiter eskaliert, könnte es zu einem hybriden Angriff kommen, meint der Experte. Dazu könnten der Einsatz von Cyber-Kriegsführungsfähigkeiten, Informationsoperationen, die Untergrabung des Vertrauens in die schwedischen Behörden und Angriffe auf die unterseeische Infrastruktur gehören. "Die westlichen Marinen müssen daher schnell handeln", um diese Schwachstellen zu minimieren, so Lundqvist. Am 26. Oktober begann die schwedische Marine mit neuen Inspektionen in der Nähe der Nord-Stream-Pipelines. Sie laufen unabhängig von den strafrechtlichen Ermittlungen, sagte Kapitän Jimmie Adamsson, ein Sprecher der schwedischen Marine, der Nachrichtenagentur AFP.
"Fuck Putin"
Zur Zeit des Kalten Krieges gab es sogar vier Regimenter auf Gotland. "Wir hatten Küstenartillerie und Luftabwehr. Unser Ziel ist es jetzt, die volle Bandbreite an Fähigkeiten wiederherzustellen", sagt Tomas Ängshammar, Kommunikationschef des Gotland-Regiments. Schweden wird zwei neue A26-U-Boote erhalten, die für flache Gewässer wie die Ostsee optimiert sind. Raketenartillerie wie HIMARS könnte zur Verteidigung der Insel vom schwedischen Festland aus eingesetzt werden. Bei Bedarf könnte sie auch von Gotland aus zum Schutz der baltischen Staaten verwendet werden. Das Regiment P18 soll in nur einem Jahr auf 4000 voll mobilisierte Soldaten aufgestockt werden. Im Mai fanden auf der Insel Übungen für die Heimatschutztruppen "Hemvärnet" statt. Insgesamt sind zwischen 300 und 400 Soldaten des Heimatschutzes auf Gotland stationiert.
Im Alltag auf der Insel sind diese militärischen Entwicklungen nur sporadisch zu spüren. Taxifahrer sagen, dass sie jetzt "viel öfter Soldaten vom Flughafen abholen". Die lokalen Behörden arbeiten hart daran, das Problem der Wohnungsknappheit zu lösen. Während der touristischen Hochsaison kann es für Berufssoldaten schwierig sein, eine Mietwohnung zu finden. Um die Unterbringung der Wehrpflichtigen kümmert sich das Regiment selbst. Bei Militärübungen kann man schwedische und amerikanische Flugzeuge und Hubschrauber wie JAS 39 Gripen, F 15E, C-130 und CV-22 Osprey in niedriger Höhe über der Hauptstadt Visby fliegen sehen. In der Altstadt hängt ein Schild mit der Aufschrift "Fuck Putin" am Fenster eines Designladens. Viele Einheimische unterstützen die militärische Aufrüstung, nicht zuletzt, weil sie einen Geldzufluss für die örtlichen Unternehmen und Geschäfte bedeutet. Im September traf die USS Arlington zu einem geplanten Hafenbesuch in Visby ein. "Das Personal in einem der Restaurants meinte, es sei toll, weil die Amerikaner so großzügig Trinkgeld geben", sagt Rikard von Zweigbergk, Leiter der Bereitschafts- und Zivilverteidigung der Gemeinde Gotland.
Die Mittel für seine Abteilung wurden in den letzten vier Jahren von drei Millionen Kronen auf rund zwölf Millionen Kronen erhöht, also von etwa 272.000 auf mehr als eine Million Euro. Die rund 6500 Einwohner, die für die Gemeinde arbeiten, wurden aufgefordert, sich mit Medikamenten, Benzin und Chemikalien zur Reinigung des Trinkwassers einzudecken und ihre Fahrzeuge stets vollgetankt zu halten. Speziell für diesen Zweck gedruckte Broschüren erklären, wie man drei Tage ohne Hilfe überleben kann. Es gibt Tipps wie: "Besorgen Sie sich einen Campingkocher mit Brennstoff, Wasserkanister, eine Taschenlampe und ein Radio mit Ersatzbatterien." Nach dem schwedischen Gesetz zur "Gesamtverteidigung" sollten von den 61.000 Einwohnern Gotlands alle zwischen 16 und 70 Jahren in der Lage sein, in einer Krisen- oder Kriegssituation aktiv mitzuhelfen. "Wir arbeiten viel am Change Management", um die aktuellen Arbeitsabläufe anzupassen und sicherzustellen, dass jeder einen "Plan B" hat und weiß, was im Notfall zu tun ist, sagt von Zweigbergk. "Es sind 100 Kilometer bis zum Festland. Deshalb sprechen wir oft von Lock-in, also der Gefahr, auf der Insel 'gefangen' zu sein."
Gotland kennt russische Besatzung
Während des Zweiten Weltkriegs lief die Insel Gefahr, gegen Nazi-Deutschland allein gelassen zu werden, sagt der Historiker Michael Scholz, der Neuere Geschichte auf dem Campus Gotland lehrt. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Selbstverteidigung sei bei den Einheimischen schon lange vorhanden. "Das Militär ist ein Teil der Identität dieser Insel."
Obwohl es nicht allgemein bekannt ist, hat Gotland unter russischer Besatzung gelebt, wenn auch nur kurz. Im Jahr 1808 dauerte sie rund drei Wochen, sagt Tryggve Siltberg, ein gebürtiger Gotländer und emeritierter Staatsarchivar. Über diese 27 Tage hat er ein fast 700 Seiten dickes Buch geschrieben. "Der 'Krieg' auf Gotland im Jahr 1808 war ein guter Krieg. Keine Gewalt, nur Verhandlungen."
Im Staatsarchiv holen Siltbergs Nachfolger Jan Östergren und seine Frau Maria Larsson Östergren die Schriften des Domkapitels von Visby aus den Jahren 1801 bis 1811 hervor. Darin werden die Ereignisse von damals akribisch festgehalten, darunter auch die Unsicherheit der Einwohner, ob sie in den Kirchen für den schwedischen König oder den russischen Zaren beten sollten.
Obwohl sie sich beruflich mit der Vergangenheit befasst, gibt Maria Larsson Östergren zu, dass sie sich in letzter Zeit zunehmend Sorgen um die Zukunft macht: "Ich hoffe, dass das Jahr 2022 nicht als die Zeit in die Geschichtsbücher eingeht, in der Gotland sich von seinem friedlichen Leben verabschiedet hat."
Quelle: ntv.de