Tauziehen um unsere Demokratie Selten war Social Media so entscheidend wie bei dieser Europawahl
01.06.2024, 10:20 Uhr Artikel anhören
Untersuchungen zeigen, dass Tiktok deutlich mehr polarisierende politische Inhalte ausspielt als andere Plattformen.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Wie wir uns informieren, hat sich für immer verändert. Vieles spricht dafür, dass weitere fundamentale Veränderungen bevorstehen. Die Europawahl wird der nächste große Test, wie stark Social Media heutzutage Wahlen entscheidet.
Seit es Social Media gibt, beeinflusst es unsere Debatten - und unsere Wahlen. Der jüngste Sylt-Skandal ist ein weiterer Beweis dafür, wie sehr unser politischer Diskurs von Social Media dominiert ist. Gerade im Superwahljahr, kurz vor der Europawahl, ist das relevanter denn je. Die abscheulichen Parolen, die auf Sylt gegrölt wurden, waren in den Monaten zuvor vor allem über Tiktok populär geworden.
Mit den Anfängen von Social Media - Menschen teilen private Inhalte mit Bekannten - hat die heutige Social-Landschaft wenig gemein. Für viele Nutzer sind soziale Kanäle Unterhaltung und Information in einem. Geteilt wird Berufliches, Privates und Politisches. Zu denken, dass wir alle weiterhin Produzenten und Sender von Inhalten auf Social Media sind, ist dabei bestenfalls romantisch. Der mit Abstand größte Teil der Bevölkerung konsumiert, was eine kleine "Creator"-Elite produziert.
Dazu kommt, dass Generative AI auf dem Weg ist, das Produzieren von Inhalten noch einfacher, günstiger und schneller zu machen. Mithilfe der Generativen Künstlichen Intelligenz produzieren weniger Menschen immer mehr Inhalte in höherer Qualität. Und auch das automatisierte Anpassen von Inhalten auf die Bedürfnisse Einzelner wird einfacher. Genauso wie das künstliche Erstellen von Bildern und Videos. Was sich ausgedacht werden kann, kann auch täuschend echt visualisiert werden. Über kurz oder lang fällt das eigentlich immer auf - aber bis dahin haben sich die Inhalte häufig bereits verbreitet.
Die AfD hat das Tiktok-Prinzip verstanden
Eine Partei, die das neue Prinzip verstanden hat, ist die AfD. Die traditionellen Parteien sind erst spät im Wahljahr aufgewacht und haben realisiert, wie effektiv die AfD Tiktok nutzt, um junge Menschen zu erreichen.
Doch nicht nur die Parteien, die Creators und die Nutzer stehen in der Verantwortung, sondern besonders die Social-Media-Plattform-Betreiber selbst. Wer den Algorithmus kontrolliert, entscheidet, was in den Köpfen ankommt. Und die Plattformen, die die Algorithmen kontrollieren, wollen möglichst hohe Nutzung. Wir haben eine Maschine geschaffen, die immer besser darin wird, uns zu zeigen, was wir sehen wollen. Und wir sehen immer mehr davon, was wir bereits kennen und glauben.
Entsprechend kritisch beäugt werden seit Jahren Meta (Facebook, Instagram) und Twitter beziehungsweise X. Immerhin schien hier die Interessenlage bis zu Elon Musks Einmischung klar: Profit. Bei Tiktok ist diese unklarer. Es gibt aber Untersuchungen, die zeigen, dass Tiktok deutlich mehr polarisierende politische Inhalte ausspielt als andere Plattformen.
Wer die Demokratie schützen will, sollte aufhören, Social Media zu unterschätzen. Selten war dieser Umstand so bedeutsam wie aktuell. Das Superwahljahr 2024 ist geprägt von vielen Konfliktherden und extremistischen Strömungen. Nicht selten nutzen ausländische Geheimdienste totalitärer Staaten diese für ihre Einflussnahme. So sieht sich die AfD mit schweren Vorwürfen von russischer und chinesischer Manipulation konfrontiert. Dass es für Russland und China strategisch interessant ist, westliche Demokratien zu schwächen, sollte spätestens in den letzten drei Jahren jedem klar geworden sein. Und dass sie bereit sind, Social Media als Werkzeug zu nutzen, haben sie auch schon gezeigt.
Die Europawahl wird der nächste große Test, wie stark unsere Demokratie ist und ob sie gegen Tiktok eine Chance hat. Das Tauziehen um unsere Demokratie wird aber auch danach auf Social Media weitergehen. Nach den Europawahlen ist schließlich vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Das Team von US-Präsident Joe Biden hat dafür sogar eine Stelle für den Meme-Wahlkampf geschaffen.
Alle, die die Demokratie erhalten wollen, tun gut daran, Social Media weder zu bagatellisieren noch zu verherrlichen oder zu verteufeln. Wie wir uns informieren und kommunizieren, hat sich für immer verändert. Vieles spricht dafür, dass weitere fundamentale Veränderungen bevorstehen. Der einzige Weg diese Veränderungen zu gestalten, ist Social Media endlich ernst zunehmen als politischen Faktor. Und dort aktiv zu sein.
Der Autor: Max Orgeldinger ist Geschäftsführer von TLGG, einer Agentur- und Beratungs-Gruppe für digitale Transformation, Kommunikation und Markenerlebnisse mit über 250 Mitarbeitenden in Berlin.
Quelle: ntv.de