Politik

Experte zu Sylt und Neonazis "Rechtsextreme haben das Internet verändert"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos

Derzeit fällt nicht nur die AfD mit rechtsextremen Inhalten auf. Immer mehr Menschen in Deutschland äußern rechte Ansichten auch in der Öffentlichkeit. Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich erklärt, was das Internet damit zu tun hat. Vor allem Einsamkeit ziehe viele Menschen in rechtsextreme Welten, sagt der Experte.

ntv.de: Herr Dittrich, wie groß schätzen Sie die Bedrohung durch Rechtsextremismus ein? Sehen wir nur die Spitze des Eisbergs?

Miro Dittrich: Rechtsextreme Einstellungen sind in Deutschland weitverbreitet. Das sehen wir nicht nur an den Umfragewerten der AfD. Das zeigen auch die Zahlen der politisch motivierten Kriminalität. Seit der Selbstenttarnung Ende des NSU 2011 sind rechtsextreme Gewaltstraftaten um 220 Prozent gestiegen. Gleichzeitig sind wir, was die Einschätzung durch die Behörden angeht, in einer sehr guten Situation. Denn der Verfassungsschutz und auch das Innenministerium sieht im Rechtsextremismus die größte Bedrohung für die Demokratie. Das halte ich für eine zutreffende Einschätzung.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen politisch motivierten Straftaten und rechtsextremistischen Inhalten im Netz?

Miro Dittrich ist Senior Researcher beim Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) in Berlin.

Miro Dittrich ist Senior Researcher beim Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) in Berlin.

(Foto: CeMAS)

Menschen mit rechtsextremen Einstellungen haben in der Offlinewelt das Gefühl, dass sie eigentlich die schweigende Mehrheit sind. Online finden sie sich dann wieder. Selbst wenn Menschen, die etwa zu Morden oder Terroranschlägen aufrufen, nicht unbedingt die Personen sind, die diese Taten begehen, schaffen sie so ein Klima, in dem andere eine Bestätigung finden. Deshalb ist es wichtig, dass auch Straftaten, die online passieren, verfolgt werden.

Wie wird ein Mensch online zu einem Extremisten?

Wir haben eine sehr passive Vorstellung von der Radikalisierung: Dreimal falsch geklickt und der Algorithmus hat uns radikalisiert. So ist es nicht. Es sind aktivere Prozesse. Denn eine Person muss immer noch auswählen, welchen Weg sie geht.

In einer Bar auf Sylt wurden ausländerfeindliche und rassistische Parolen gerufen. Ist das Ausdruck einer Zunahme rechtsextremer Einstellungen?

Ich weiß nicht, ob wirklich mehr Menschen heute rechtsextreme Einstellungen haben. Ich glaube, sie sind jetzt nur bereiter, diese auch zu äußern. Leider gibt es da wenig Widerworte. Nachdem der Fall in Sylt bekannt wurde, kamen viele Geschichten ans Licht, wo überall ähnliches in den letzten Monaten passiert ist. Dass diese rechtsextreme Parole bereits seit Monaten mit dem Lied verbunden ist, war davor nicht in der Öffentlichkeit. Dafür hat es diese Personen auf Sylt gebraucht, an denen man nun das Narrativ der Wohlstandsverwahrlosung erzählen kann.

Sie sagen, heute ist die Bereitschaft höher, rechtsextreme Ansichten zu äußern. Warum ist das so?

Das liegt auch daran, weil die Menschen mehr rechtsextreme Inhalte im Internet finden. Sie denken, mehr Menschen teilen ihre Überzeugung.

Und welche Entscheidungen sind es, die Menschen zu rechtsextremen Inhalten führen?

Viele Menschen zieht Vereinsamung in rechtsextreme Welten. Diese Menschen suchen eine Ersatzfamilie im Digitalen. Ihnen fehlen sinnstiftende Erzählungen. Da bieten rechtsextreme Communities neue, sinnstiftende Erzählungen.

Inwiefern?

Menschen finden online irgendwelche Inhalte, von denen sie denken, jetzt hätten sie die Wahrheit verstanden. Das sind Beiträge, die eine sinnstiftende Funktion für sie erfüllen. Auf komplexe Themen finden sich einfach Antworten: Die sind an allem schuld. Das ist für diese Menschen oft eine Art Erweckungsmoment. Daraufhin strukturieren sie ihr ganzes Leben um. Es gibt dann klare Schwarz-Weiß-Bilder und einen klaren Feind. Dem Bedürfnis nach Vereinfachung gehen sie dann immer mehr nach und auch die Algorithmen lernen, dass der Nutzer sich für diese Inhalte interessiert, und die verstärken dieses Bild dann noch. Wie beispielsweise bei QAnon.

Die vor ein paar Jahren in den USA entstandene Verschwörungserzählung?

Es ist eine Ansammlung von Verschwörungserzählungen aus den USA. Deren Anhänger glauben, dass die Welt im Geheimen durch einen "Deep State" gesteuert würde. Sie glauben zudem, dass es gegen diese böse Verschwörung eine gute Verschwörung gibt. Darin ist Donald Trump der Erlöser, der gegen die Bösen kämpft. Der politische Feind wird dabei mit dem maximal Bösen aufgeladen.

Die Corona-Pandemie hat das Gefühl der Einsamkeit in Deutschland nur verstärkt. Welchen Einfluss hatte Corona auf rechtsextreme Inhalte im Netz?

Menschen brauchen für große Ereignisse wie die Corona-Pandemie große Erklärungen. Die zufällige Mutation eines Virus in China hat einigen nicht gereicht. Sie haben sich online auf die Antwort-Suche begeben und sind dabei Erzählungen gefolgt, die bestimmte emotionale Bedürfnisse befriedigen. Sie sind in verschwörungsideologischen Welten gelandet. Es hat sich ein digitales Ökosystem aufgebaut von alternativen Wirklichkeiten. Die Pandemie ist scheinbar vorbei. Diese Menschen sind aber weiterhin in diesen Kanälen aktiv.

Welche Rolle spielen die Gruppen oder Communities für die Radikalisierung?

In rechtsextremen Communities werden Anleitungen zum Waffenbau getauscht, sagt Miro Dittrich.

In rechtsextremen Communities werden Anleitungen zum Waffenbau getauscht, sagt Miro Dittrich.

(Foto: picture alliance / dpa)

Online-Communities geben ideologische Bestärkung und ein Verbundenheitsgefühl. Dort denken die Menschen, sie würden gegen geheime Kräfte kämpfen, die Kinder versklaven. Auch Anleitungen zum Waffenbau werden getauscht. Die Mitglieder dieser Communities glorifizieren Anschläge und stacheln sich gegenseitig an. Sehr eindrucksvoll zeigt das der Anschlag in Halle im Jahr 2019. Der Attentäter in Halle hat sich die Tatwaffe selbst ausgedruckt, mit Vorlagen aus dem Internet. Er hatte ein Langschwert in seinem Auto. Er hat sich als Kreuzritter gesehen. All sein Wissen kam aus der digitalen Welt. Er hat sich ausschließlich online radikalisiert.

Die eigentliche Gefahr ist also das Internet?

Heute kann man Rechtsextremismus nur verstehen, wenn man das Internet beobachtet. Da trifft der Spruch zu: "You can't understand the far-right without understanding the internet. You can't understand the internet without understanding the far-right." Das Internet ist ein sehr wirkmächtiges Werkzeug zur Rekrutierung, Propaganda und Vernetzung der Rechtsextremisten. In der NS-Zeit haben die Nationalsozialisten die damals neuen Medien wie Radio und Kino schnell für ihre Zwecke verwendet. So ist das heute mit dem Internet. Nicht nur das Internet wirkt auf Rechtsextreme, sondern auch Rechtsextreme wirken auf das Internet. Sie haben das Netz verändert. Wir sehen das bei der AfD. Die war sehr schnell auf Facebook und ist sehr erfolgreich auf Youtube und Tiktok. Besonders jüngere Menschen erreichen sie dort.

Welche Rolle spielen Plattformen?

Stärker moderierte Plattformen können die Radikalisierung stärker ausbremsen. Aber auf Plattformen, auf denen keine oder kaum Moderierung stattfindet, dort können sich die Menschen frei ausleben. Beispielsweise hat sich auf Telegram eine eigene Subkultur entwickelt. Die Szene nennt sich Terrorgram. Ihre Mitglieder verherrlichen Terroristen und stacheln sich gegenseitig zu terroristischen Taten an.

Wie kann das sein?

Die Sicherheitsbehörden haben die Digitalisierung verschlafen. Sie reagieren zu spät auf Phänomene des digitalen Wandels. Es brauchte erst mehrere Terroranschläge, bis man verstanden hat, dass die Dinge, die im Digitalen passieren, dort nicht bleiben. Sie übertragen sich auf Stimmungen in der Offlinewelt. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf, auch wenn viel in eine bessere Richtung geht.

Was müsste dagegen unternommen werden?

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Auch wenn im Internet die gleichen Gesetze wie in der Offlinewelt gelten, werden sie dort bei Weitem nicht konsequent genug umgesetzt. Neben den illegalen Inhalten, die dort passieren, sollten sich die Plattformen aber auch ihrer Verantwortung bewusst sein, dass Extremisten sie nutzen, oft auch clever, gerade noch legal oder gerade noch, wie die Plattformen es erlauben. Die Gefahr muss klarer gesehen werden. Es ist sehr erschreckend zu sehen, dass die potenziellen Täter rechtsextremer Gewalttaten immer jünger werden. Diesen Trend beobachten wir unter männlichen Minderjährigen weltweit. Aber, wenn wir das Problem tatsächlich lösen wollen, dann müssen wir uns auch Fragen stellen, wie es dazu kommt, dass ein 13-Jähriger bereit ist, rechtsextreme Gewalttaten zu verüben.

Auf der re:publica 2024 hielt Miro Dittrich einen Vortrag über "Rechtsterror Reloaded: Die Transformation des Rechtsterrorismus im digitalen Zeitalter".

Auf der re:publica 2024 hielt Miro Dittrich einen Vortrag über "Rechtsterror Reloaded: Die Transformation des Rechtsterrorismus im digitalen Zeitalter".

(Foto: Nowak)

Wo sehen Sie den Anfang der Radikalisierungsspirale?

Es gibt immer wieder Hinweise auf die Gaming-Kultur. Gaming ist verbreitet. Radikalisierung hat aber nicht immer mit der Gaming-Kultur zu tun. Digitale Orte sind Sozialisierungsorte von jungen Menschen. Eltern sollten nicht nur darauf achten, wo und mit wem die eigenen Kinder in der Offlinewelt ihre Zeit verbringen. Ebenso sollten sich Eltern fragen, mit welchen Menschen ihre Kinder online im Kontakt sind.

Warum fühlen sich gerade junge Männer angesprochen?

Wir sehen eine Verunsicherung von jungen, heranwachsenden Männern in ihrer Männlichkeit. Eine Antwort auf diese Verunsicherung ist es, möglichst hart zu sein. Aus der Verunsicherung heraus probieren sie einem stereotypischen Männlichkeitsbild zu entsprechen.

Sie sind selbst auf X aktiv. Fühlen Sie sich dort wohl?

Seitdem Elon Musk sich nicht mehr für Content-Moderation interessiert, breiten sich dort Rechtsextreme aus. Wir sehen, dass das Diskursklima abgenommen hat, die Kommentarspalten unbrauchbar geworden sind, dass Holocaustleugnung und rechtsextreme Gewaltaufrufe dort sehr einfach zu finden sind. Auf X habe ich eine gewisse Reichweite, die nutze ich. Zudem finde ich es gut, wenn offizielle Accounts von Organisationen die Plattform verlassen. Ich glaube, es ist immer noch ein Ort, an dem ich in einem begrenzten Rahmen meine Erkenntnisse teilen kann. Aber ich stehe dem mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Ist das der digitale Ort, den wir haben wollen?

Mit Miro Dittrich sprach Rebecca Wegmann auf der re:publica 24

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen