Politik

Konservativer Feldzug eskaliert Texas lobt Kopfgeld gegen Abtreibungen aus

Seit fast 50 Jahren sind Schwangerschaftsabbrüche in den USA erlaubt, und fast genauso lang laufen die Konservativen dagegen Sturm. Nun lässt der Supreme Court ein rigoroses texanisches Gesetz in Kraft, das Abtreibungen nahezu verbietet. Dies könnte eine Zeitenwende einläuten.

Ein Kleiderbügel aus Draht, geformt nach den Umrissen des US-Bundesstaates Texas. Es tropft Blut herab. Mit solchen Bildern marschierten Frauen schon vor Monaten aus Protest gegen ein Gesetz durch die Straßen, das Frauen die Abtreibung im Bundesstaat fast ausnahmslos verbietet. Am 1. September trat es in Kraft - und hat damit den vielleicht größten ideologischen, politischen und damit gesellschaftlichen Konflikt der Vereinigten Staaten eskaliert. Manche sagen, dies sei der Anfang vom Ende für das allgemein praktizierte Recht auf Schwangerschaftsabbruch.

Das Gesetz in dem republikanisch regierten Bundesstaat ist das strengste seit einem halben Jahrhundert. Es stellt Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe, die später als etwa sechs Wochen nach Beginn der letzten Periode - sobald ein Herzschlag des Fötus nachweisbar ist - durchgeführt werden. Ausnahmen wegen Inzest oder Vergewaltigung gibt es nicht. Nur "medizinische Notfälle" gelten als Abbruchgrund. Bislang haben Bundesstaaten bis zum dritten Monat kein Recht, Abtreibungen einzuschränken. Viele Frauen wissen sechs Wochen nach ihrer letzten Periode noch nicht einmal, dass sie schwanger sind.

Was den Gesetzestext noch umstrittener macht, ist ein legaler Kniff. So gibt es Belohnungen von mindestens 10.000 Dollar plus Kostenausgleich für Denunzianten, die "Helfer oder Unterstützer" erfolgreich verklagen. Das kann theoretisch eine Krankenschwester, der Taxifahrer oder sogar der eigene Lebenspartner sein, der für den Abbruch bezahlt. Der Text ist sehr allgemein gehalten. Eilanträge darauf, das Gesetz auf Eis zu legen, bis über seine Verfassungsmäßigkeit entschieden ist, lehnten die Richter am Supreme Court mit einer 5:4-Mehrheit kurz und knapp ab.

Texas' Gouverneur Greg Abbott ist einer der populärsten US-Republikaner.

Texas' Gouverneur Greg Abbott ist einer der populärsten US-Republikaner.

(Foto: AP)

Seither jubeln Republikaner und Konservative im Land über eine richtungsweisende Entscheidung, die Demokraten und Progressiven sind entsetzt. Sie befürchten einen legalen Dominoeffekt, der zum Ende der Abtreibungen in den USA führen könnte. Präsident Joe Biden nannte das Gesetz im zweitgrößten Bundesstaat des Landes einen "nie dagewesenen Angriff auf Frauenrechte". Der Demokrat bezichtigte das Oberste Gericht, mit seiner Entscheidung "verfassungswidriges Chaos" auszulösen.

Im Netz wird das strikte Verbot samt Belohnungen für Denunzianten mit der religiösen Anti-Frauen-Herrschaft aus "Der Report der Magd" von Margaret Atwood verglichen. Schon seit Wochen hat die Lobbyorganisation "Texas Right to Life" eine Website, über die Hobbydetektive online ihre Rechercheergebnisse weitergeben können. Die Regelung ist perfide, weil juristisch schwieriger angreifbar: Denn nicht der Bundesstaat, seine Behörden oder Angestellten verfolgen Verstöße, sondern die Bürger. Manche Gegner handeln auf eigene Faust: In den vergangenen Tagen fluteten sie die Seite mit erfundenen Vorwürfen, etwa gegen Texas' Gouverneur Greg Abbott; der populäre Republikaner hatte das Gesetz unterschrieben.

"Roe gegen Wade" wackelt

Die Entscheidung des Supreme Court ist auch das Vermächtnis von Ex-Präsident Donald Trump. Bidens republikanischer Vorgänger hatte drei neue Richter nominiert; sie gehören zu den fünf, die Texas gewähren lassen: Brett Kavanaugh, Neil Gorsuch und Amy Coney Barrett. Jedes der neun Mitglieder des Gerichtshofs ist auf Lebenszeit ernannt. Von ihnen gelten sechs als konservativ, drei als progressiv. Vor fast einem halben Jahrhundert hatte der Supreme Court 1973 ("Roe gegen Wade") generell Abtreibungen bis 24 Wochen nach der letzten Periode zugelassen. Das Urteil gilt als Präzedenzfall, ist aber nie gesetzlich festgeschrieben worden.

Konservative laufen gegen die Entscheidung schon lange Sturm. Für einen großen Teil der Republikaner ist die Haltung von Politikern zur Abtreibung entscheidend für ihr Wahlverhalten. Trump und sein Vize Mike Pence, ein Evangelikaler, versprachen regelmäßig, der von ihnen neu besetzte Supreme Court werde "Roe gegen Wade" kippen und Abtreibungsverbote damit zulassen. Das Gesetz in Texas kommt dem schon ziemlich nahe: Bis zu 90 Prozent der Frauen in Texas, die abtrieben, taten dies bislang später als in der sechsten Woche nach ihrer letzten Periode.

Demonstrantinnen in Austin.

Demonstrantinnen in Austin.

(Foto: AP)

In Texas ernenne das Gesetz "die Bürger zu Kopfgeldjägern und bietet ihnen finanzielle Entlohnung dafür, in zivil die medizinischen Behandlungen ihrer Nachbarn zu verfolgen", empörte sich die als progressiv geltende Richterin Sonia Sotomayor in ihrem schriftlichen Widerspruch gegen den ersten Spruch des Gerichts. "Texas Right to Life" widerspricht: Es gehe darum, die "Abtreibungsindustrie" zu verklagen, wie Gegner die Dienstleister nennen, nicht darum, seine Nachbarn auszuspionieren. Der Gesetzestext sagt jedoch etwas anderes.

Manche sehen wegen der Entscheidung des Supreme Court den Kulturkampf um "Roe gegen Wade" und das Recht auf Abtreibung schon als entschieden an: "Viele haben seine Tage bereits gezählt, und das bestätigt es", wird Mary Ziegler, eine Juraprofessorin und Autorin von "Abtreibung und das Gesetz in Amerika: Roe gegen Wade" in der "Washington Post" zitiert. "Die verbleibenden Fragen sind, wie und wann es fällt."

Andere Bundesstaaten in Lauerstellung

Bereits im Herbst beginnt eine Verhandlung, bei der der konservativ dominierte Supreme Court die Möglichkeit hätte, "Roe gegen Wade" zu Fall zu bringen. Dann werden sich die Richter zu einer wesentlich weniger restriktiven Regelung aus Mississippi positionieren, die ein Schwangerschaftsabbruchsverbot nach der 15. Woche vorsieht - zwei Monate früher als bislang erlaubt. Ein Urteil wird für kommenden Sommer erwartet. Dann könnte der Supreme Court mit einem neuen Präzedenzurteil "Roe gegen Wade" hinfällig machen. Mindestens bis dahin müssen sich die 29 Millionen Texaner mit der neuen Realität abfinden.

Ähnliche Gesetzesprojekte gibt es unter anderen in Kentucky, Louisiana, Ohio und Georgia. Keines ist bislang in Kraft. Schon jetzt haben mehrere republikanisch regierte Bundesstaaten angekündigt, dass sie das texanische Gesetz als Vorlage für eigene Verschärfungen sehen: Mississippi, Arkansas, Florida, Indiana, North Dakota und South Dakota. Sie werden wohl nicht die Letzten sein.

Im vergangenen Jahr brachen in Texas 55.175 Frauen ihre Schwangerschaft auf legalem Wege ab, waren dabei aber über die sechste Woche hinaus. Das Abtreibungsverbot steht auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Schieflagen. In Texas liegt das mittlere Einkommen schwarzer Haushalte rund ein Viertel unter dem Gesamtmittel des Bundesstaates. Zehntausende Texanerinnen müssten für einen Eingriff nun in andere Bundesstaaten reisen. Falls sie es sich leisten können. Überproportional viele schwarze Frauen sind von den Abtreibungsbeschränkungen betroffen. Bei ihnen wurden zuletzt rund 30 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt, aber ihr Bevölkerungsanteil liegt nur bei 13 Prozent.

"Das Gesetz ist völlig falsch", kritisierte die demokratische Senatorin Elizabeth Warren bei CNBC, und hob die verschiedenen Einkommensrealitäten hervor: "Wenn Abtreibungen illegal sind, treiben reiche Frauen weiterhin ab." Sie hätten die finanziellen und sozialen Voraussetzungen dafür. Hingegen würden "Frauen zur Mutterschaft gezwungen, die ohnehin schon am finanziellen Limit leben und nicht wissen, wie sie Behandlungen bezahlen sollen."

Vizepräsidentin Kamala Harris sagte: "Wir werden nicht zulassen, dass unser Land in die Zeit der Hinterhofabtreibungen zurückfällt." Es unklar, wie das geschehen soll. Zwar haben die Demokraten im Repräsentantenhaus bereits angekündigt, dass sie ein Abtreibungsrecht so bald wie möglich als Gesetz verabschieden wollen. Aber im Senat fehlt ihnen die nötige Mehrheit von 60 Prozent. Die dortigen Republikaner können die Initiative mühelos blockieren.

Wird es kein Gesetz auf Bundesebene geben und der Supreme Court bringt "Roe gegen Wade" zu Fall, hätten die Konservativen mit ihrem jahrzehntelangen Feldzug Erfolg gehabt. Auch daran denkt Texas schon. Ein Gesetz in Warteschleife sieht ein sofortiges Abtreibungsverbot im Bundesstaat vor. Andere dürften folgen.

Quelle: ntv.de

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