Kette an Indizien Übergelaufener Pilot Kusminow ermordet - Spuren führen nach Moskau


Getöteter Überläufer: Maxim Kusminow bei einer Pressekonferenz des ukrainischen Geheimdienstes im September letzten Jahres.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Der zur Ukraine übergelaufene russische Armeehubschrauber-Pilot Maxim Kusminow ist tot. Dass er offenbar Opfer eines Attentats geworden ist, macht eine dubiose italienische Website öffentlich. Wollte Russland, dass die Welt und vor allem die Menschen in Russland von dem Mord erfahren? ntv.de findet Indizien.
Sechs Tage vergehen, bis jemandem der Geduldsfaden reißt. Es sind die Tage zwischen Dienstag, 13. Februar, als in der spanischen Urlaubsregion Alicante ein Mann hingerichtet wird, und dem 19. Februar, als öffentlich wird: Der Tote ist niemand Geringeres als der spektakulär übergelaufene russische Armeehubschrauber-Pilot Maxim Kusminow. Sechs Tage lang hatten weder die spanischen Ermittler die Identität des Mordopfers veröffentlicht noch kam von ukrainischer Seite eine Nachricht über das gewaltsame Ableben des im vergangenen August noch so stolz vorgeführten Seitenwechslers Kusminow. Öffentlich macht den Mordanschlag die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS - unter Verweis auf ein nicht einmal in Italien bekanntes italienisches Internetportal. Der Vorgang ist ein Fingerzeig - nicht nur auf die russischen Versuche der Einflussnahme in Italien, sondern auch auf die Urheberschaft des Mordes.
Kusminow hatte am 9. August 2023 einen mit Ersatzteilen für Kampfflugzeuge beladenen, vergleichsweise neuen Transporthubschrauber Mi-8 in ukrainisches Territorium gesteuert. Zwei weitere Besatzungsmitglieder wurden im Zuge der Operation getötet - es ist unklar, ob von Kusminow oder ukrainischen Kräften. Der ukrainische Geheimdienst hatte zuvor Kusminows Familie in Sicherheit gebracht und ihm nach dem Überlaufen umgerechnet 460.000 Euro ausgezahlt. Obendrauf gab es eine falsche Identität: Nach dem Mordanschlag auf ihn war in spanischen Medien zunächst von einem 33-jährigen Ukrainer die Rede, nicht von einem 28-jährigen Russen.
"Verräter" sterben
Kusminow war nach eigener Darstellung von sich aus zu der politischen Überzeugung gelangt, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine falsch ist. In Spanien währte sein Leben nicht lange. Das Mordopfer sei in der Tiefgarage eines Wohnhauses angegriffen worden, habe es noch zur Ausfahrt geschafft und sei dort laut Augenzeugen von einem Fahrzeug überfahren worden, berichteten spanische Medien unter Berufung auf die Polizei. Je nach Quelle wurde Kusminow mit fünf bis zwölf Schüssen getötet. In einem Nachbarort wurde später ein ausgebranntes Auto gefunden, das der oder die Angreifer benutzt haben sollen. Die Polizei vermutete aufgrund des Tathergangs von Beginn an einen Vergeltungsakt.
Dass Russland Kusminow nach dem Leben trachtete, ist belegt. Bereits im Oktober hatten Angehörige des Militärgeheimdienstes in russischen Medien geprahlt, Kusminow töten zu wollen. Am Tag nach Bekanntwerden von Kusminows Tod sagte der Direktor des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Naryschkin, laut russischen Medien, Kusminow sei eine "moralische Leiche" gewesen, als er sein Verbrechen geplant habe. Die Ukraine bietet potenziellen russischen Überläufern viel Geld - bis zu 920.000 Euro gibt es für Piloten, die sich samt Kampfjet der Ukraine ausliefern.
Kusminows Tod ist eine Warnung an potenzielle Nachahmer: Sie können sich nirgendwo sicher fühlen. Der ukrainische Geheimdienst konnte Kusminow nicht beschützen. Kiews Geheimdienstler wiederum sind düpiert. Aufwändig hatten sie den Seitenwechsel inszeniert und hernach der Weltöffentlichkeit präsentiert. Zudem gilt in Russland weiter ein Prinzip aus Sowjetzeiten, das auch der frühere KGB-Agent Wladimir Putin kultiviert: Verräter werden bestraft, wie unter anderem die Polonium-Vergiftung von Alexander Litwinenko 2006 in London oder der Nowitschok-Anschlag auf Sergej Skripal 2018 demonstrierten.
Erstaunlich gut informiert
Nach dieser Logik reicht es eben nicht, Kreml-Gegner und vermeintliche Verräter im Stillen zu töten. Die Attentate sollen gesehen werden; sie sollen Stärke demonstrieren und einschüchtern. So fand die Nachricht vom Tod Kusminows am 19. Februar doch noch in die Öffentlichkeit. Am frühen Montagvormittag titelte die italienische Website il-corrispondente.com: "Exklusiv: 'Verräter leben nicht lange'", wenige Stunden später griff die von Moskau gelenkte Nachrichtenagentur TASS den Bericht über die wahre Identität des Mordopfers in Alicante auf.
Diverse russische, aber auch ukrainische Medien übernahmen umgehend die TASS-Meldung. Am Abend bestätigte schließlich der ukrainische Geheimdienst dem ukrainischen Rundfunk, dass Kusminow tot ist. Die spanische Nachrichtenagentur EFE erhielt kurz darauf aus Ermittlerkreisen die Bestätigung, dass das Mordopfer Kusminow ist. Auf eine Quelle in der spanischen Polizei berief sich am Morgen bereits die italienische Seite il-corrispondente.com. Doch diese Behauptung muss angezweifelt werden, denn es handelt sich hier nicht um eine Nachrichtenseite im journalistischen Sinne, weshalb russische Medien in ihrer Kusminow-Berichterstattung sorglos auf il-corrispondente.com verlinken können.
Die Seite ist voller russischer Propaganda zum Ukraine-Krieg. Über Kritik an Wladimir Putin und seiner vermeintlichen militärischen Spezialoperation stolpern russische Leser dagegen nicht. Der Artikel über Kusminows Tod stellt den Piloten als "von Habgier getrieben" dar. "Verräter leben nicht lange und früher oder später ist es an der Zeit, sich zu rächen", schreibt der anonyme Verfasser des Artikels - und nutzt den Satz als Zitat für die Überschrift. Sich selbst zitierende, Mordopfer diffamierende Artikel haben wenig mit Journalismus zu tun, doch dafür ist die Botschaft klar: Kusminow habe seinen Tod verdient.
Eine interessante Verbindung
Die Ende März 2023 gestartete Seite gibt weder ihre Betreiber noch ihre Autoren preis. Das Impressum macht leicht widerlegbare, falsche Angaben. Die Adresse gehört zu einem Luxusmodegeschäft nahe Roms berühmter Spanischer Treppe, die Steueridentitätsnummer stuft die Website des italienischen Finanzamts als falsch ein. Anstatt der für Italiens Medien üblichen Domain .it nutzt il-corrispondente das kommerzielle .com; der Webhost ist in den Niederlanden, der Betreiber angeblich im Baltikum.
Wer steckt also hinter der Seite mit den sensationellen Nachrichten, die in Italien nicht einmal Journalisten kannten, dafür aber die Redakteure der von Moskau gelenkten Nachrichtenagentur TASS? Der italienische Website-Spezialist Alex Orlowski, der sich in seiner Freizeit mit Propaganda im Internet befasst, veröffentlichte in der Nacht zu Dienstag einen Hinweis: Er habe Verbindungen von il-corrispondente.com zu dem Politaktivisten Amedeo Avondet ausgemacht. Der Mann aus Turin gehörte zu den wenigen Followern des Instagram-Profils von il-corrispondente.com - und löschte nach Orlowskis Veröffentlichung prompt seine Followerschaft.
Wichtiger noch, Avondets politische Splitterbewegung Italia Unita, die eher ein Einmannbetrieb zu sein scheint, ist mit der Seite eng verbunden. Der von ntv.de eingesehene Telegram-Kanal der Partei hat seit dem Start von il-corrispondente.com am 28. März 2023 dutzendfach dessen Artikel verlinkt. Fast immer hat Avondet selbst diese Artikel der Website über den Telegram-Kanal von Italia Unita geteilt, teilweise kurz nach Erscheinen der Texte.
Diese befassen sich ganz überwiegend mit vermeintlichen ukrainischen Menschenrechtsverbrechen, lobpreisen die humanitären Aktivitäten Russlands in den besetzten Gebieten und verurteilen westliche Politiker, welche die Ukraine unterstützen. Das sind auch Avondets Themen. Er beschreibt sich als Journalisten, hat auch für russische Medien geschrieben und russische Truppen in der Ukraine begleitet; ausführlich zu sehen in seinem Instagramkanal.
Ein entschiedenes Dementi
Im Telegram-Chat mit ntv.de bestreitet Avondet allerdings eine Urheberschaft: "Ich bin weder der Leiter noch der 'Autor' der Website noch habe ich eine offizielle Position innerhalb der Redaktion von 'Il Corrispondente'", erklärte Avondet. Zudem bestritt er die von Orlowski recherchierte Verbindung: Der genannte Instagram-Account gehöre ihm nicht. Er habe lediglich "Fachartikel" für il-corrispondente.com verfasst, wie für andere Medien auch. Ihm ist wichtig: Sein Kanal Italia Unita habe zu Artikeln verschiedenster Medien verlinkt. Zudem habe sich il-corrispondente.com niemals mit ihm selbst oder seiner Partei befasst. "Die Behauptungen, 'Il Corrispondente' sei ein Propagandaorgan, das ad hoc geschaffen wurde, um für mich zu werben, sind leider nicht wahr", schrieb Avondet.
Die falschen Angaben zu den Betreibern der Website dienten seines Wissens nach dazu, "das Management vor den rechtlichen Konsequenzen der Veröffentlichung unbequemer Nachrichten zu schützen". Doch in Italien müssen sich ebenso wie in Deutschland Veröffentlichende im Sinne des Presserechts ausweisen; in Russland erst recht. Wichtig ist Avondet, mit folgendem Satz zitiert zu werden: "Wenn Julian Assange anonym für Il Corrispondente geschrieben hätte, wäre er jetzt wahrscheinlich frei, zu Hause bei seiner Familie." Der ukrainische Geheimdienst trachte Avondet nach dem Leben, umso wichtiger sei es, die Quellen der Website zu schützen. Die Erklärung deckt sich in weiten Teilen argumentativ mit einer Selbstdarstellung, die am 20. Februar auf il-corrispondente.com erschien.
Kein Unbekannter - in Russland
Während Avondet die einzige Person ist, die sich bisher mit der Website verbinden lässt, ist eine Parallele umso auffälliger: Die russische Nachrichtenagentur TASS kannte, anders als die italienische Öffentlichkeit, nicht nur il-corrisponente.com, sie hat auch Verbindung zu Avondet. Zwischen Juni 2022 und Februar 2023 berichtete TASS über vier prorussische Veranstaltungen, die Avondet in Bergamo, Bologna, Mailand und San Remo organisiert hatte, sowie über eine von ihm eingeleitete Petition. Diese forderte, angebliche ukrainische Menschenrechtsverbrechen im Donbass zu untersuchen.
Lauter Nachrichten für Russlands Medien, in denen Avondet als Kronzeuge der vermeintlich großen Unterstützung für Putins Russland in Italien auftrat. Er selbst schrieb ntv.de über sich: "Ich wurde nicht 'von Russland angeheuert', ich sympathisiere stark mit diesem Land, seit ich in der achten Klasse war." Das sei 2014 gewesen. Neun Jahre später machte eine skurrile Website, deren einzig nachvollziehbare Verbindung Avondet ist, den Mordanschlag auf einen russischen Überläufer nicht nur öffentlich, sie rechtfertigte ihn. Woher das Portal diese Information hatte, bleibt Spekulation.
Quelle: ntv.de