Stolz, Trauer und Angst Ukrainer lehnen Kompromisse mit Russland ab


Die überwiegende Emotion, die die meisten Ukrainer verspüren, wenn sie an ihr Land denken, ist Stolz.
(Foto: via REUTERS)
Umfragen zeigen, dass die Ukrainer nicht bereit sind, Russland nachzugeben. Auch die Unterstützung für Präsident Selenskyj ist weiterhin hoch. Überraschenderweise sind die Ukrainer im Land optimistischer als die Geflüchteten.
Das zweite Jahr in Folge muss die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag am 24. August unter den Bedingungen der russischen Invasion feiern. Außerdem markiert dieser Donnerstag genau anderthalb Jahre seit Beginn des großangelegten russischen Angriffs. Trotz hoher militärischer und ziviler Verluste, trotz der etwas vorankommenden, aber grundsätzlich schwierigen Gegenoffensive im Süden des Landes ist die Entschlossenheit der ukrainischen Gesellschaft weiterhin groß. Schaut man auf die Umfragen der renommierten Meinungsinstitute, vertrauen stets mehr als 90 Prozent der Ukrainer ihren Streitkräften und mehr als 80 Prozent dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Auch in Fragen der Möglichkeit territorialer Kompromisse mit Russland bleiben die Ukrainer einig. Laut der jüngsten Studie der Stiftung Demokratische Initiativen und der Denkfabrik Zentr Rasumkowa zum Unabhängigkeitstag werden solche Zugeständnisse von 90,4 Prozent der Menschen abgelehnt. Nur für 4,7 Prozent wären sie akzeptabel. Der Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft als theoretischer Gegenstand eines Kompromisses mit Moskau lehnen 73,8 Prozent ab, die Verkleinerung der Streitkräfte in Friedenszeiten ist für 80 Prozent undenkbar. Unter der kleinen Minderheit, die pauschal die Notwendigkeit jeglicher Kompromisse für den Frieden befürwortete, zeigte sich bei der Befragung zudem, dass zwei Drittel davon territoriale Kompromisse eigentlich ablehnen.
"Das ist ein Riesenwandel"
Das soziologische Institut Rating Group, das in der Ukraine einen guten Ruf genießt, hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zum Unabhängigkeitstag zudem nach den Emotionen gefragt, die sie aktuell verspüren, wenn sie an ihr Land denken. Dabei wurden nicht nur in der Ukraine gebliebene Menschen, sondern auch die in die EU geflohene Bürgerinnen und Bürger in die Probe aufgenommen. Die überwiegende Emotion ist mit 74 Prozent Stolz. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Trauer (43 Prozent) und Angst (17 Prozent). Interessant ist dabei, dass die Menschen, die sich im Land aufhalten, häufiger Stolz nennen, während bei Geflüchteten häufiger als bei den Menschen in der Ukraine Trauer und Angst überwiegt.
Allerdings haben sich zwei Drittel der Ukrainer laut Rating Group mit der Tatsache abgefunden, dass der Krieg noch lange dauern wird. Diese Einstellung überwiegt ganz klar bei den jüngeren Ukrainern unter 40 Jahren. "Nach 18 schwierigsten Monaten halte ich gerade 74 Prozent, die Stolz mit Blick auf die Ukraine verspüren, für einen Beweis der Konsolidierung und Einigkeit", sagt Ljubomyr Myssiw, stellvertretender Direktor der Rating Group, ntv.de. "Im August 2021, in der Zeit vor der vollumfänglichen Invasion, war noch Trauer ganz klar auf dem ersten Rang. Das ist ein Riesenwandel, den die Gesellschaft bei der Einstellung gegenüber ihrem Land durchgemacht hat."
"Soziologie im Krieg hat ihre Beschränkungen"
Das bestätigen indirekt auch die Zahlen aus der Studie der Demokratischen Initiative sowie des Zentr Rasumkowa. Im August 2021 dachten noch 60,4 Prozent der Ukrainer, dass ihr Land sich in die falsche Richtung entwickelt - eine bis auf wenige Ausnahmen typische Einstellung der Menschen aus der Vorkriegszeit. Aktuell sind es 32 Prozent, während 48,8 Prozent den Weg der Ukraine für richtig halten. Das ist zwar weniger als die 58,9 Prozent vom Dezember 2022. Damals litt das Land einerseits unter den russischen Angriffen auf die Energieinfrastruktur, befand sich andererseits jedoch in einer kleinen Euphorie nach den militärischen Siegen in Charkiw und Cherson. Im Vergleich zum August 2022 ist die Zufriedenheit mit der Ausrichtung der Ukraine aber um mehr als sechs Prozent gestiegen.
Ljubomyr Myssiw von der Rating Group will die Umfragezahlen weder über- noch unterbewerten. "Soziologie im Krieg hat ihre Beschränkungen. Unsere Zahlen sind bis auf eine gewisse Schwankungsbreite korrekt, das kann ich garantieren. Die Menschen erleben aber eine emotionale Achterbahnfahrt, was für natürliche Widersprüche sorgt", meint er. "Es ist eigentlich überhaupt nicht überraschend, wenn Menschen, die sich zum Beispiel grundsätzlich Kompromisse mit Russland vorstellen können, konkrete Kompromissvorstellungen ablehnen. Etwa die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 ist halt ein Anhaltspunkt, den die Gesellschaft braucht, um sich zu mobilisieren." Keiner habe aber eine genaue Vorstellung, wie dieser Krieg enden wird: "Auch das Erreichen der Grenzen von 1991 bedeutet nicht automatisch Kriegsende und Frieden."
Wie kommt es aber dazu, dass im Land Gebliebene etwas optimistischere und Geflüchtete etwas pessimistische Emotionen verspüren? "Hier kommt man ohne positive Einstellung nicht weit, sonst wird es richtig schwierig. Und es kommt psychologisch gesehen wirklich öfters vor, dass man woanders mehr Angst als direkt vor Ort hat, wo man sich an die Realität mit der Zeit anpasst und das Gefühl hat, die Kontrolle über die Lage zu haben", sagt Myssiw. "Die Geschichten der Flüchtlinge, die Umstände ihrer Flucht sind ganz unterschiedlich, oft sehr tragisch. Auch das Ankommen im neuen Land ist kompliziert - und es kommen andere Kleinigkeiten hinzu. Das Serviceniveau ist in der Ukraine zum Beispiel oft besser als in der EU. Sowas fließt in die Gefühlslage mit rein."
Die Angst vor der Mobilmachung nimmt zu
Insgesamt ist laut Myssiw eine gewisse Müdigkeit in der ukrainischen Gesellschaft zu spüren, doch für einen Stimmungswechsel in der Ukraine sieht er keine Anzeichen. "18 Monate lang bestehen wir erfolgreich gegen Russland, das hätte am 21. Februar 2022 kaum jemand für vorstellbar gehalten. Bei allen Schwierigkeiten ist das - neben der Tatsache, dass es sich um einen Überlebenskrieg handelt - etwas, was den gesamten gesellschaftlichen Konsens trägt und tragen wird", betont der Soziologe.
Gewisse Risikofaktoren gibt es dennoch. Zum einen ist da die steigende Angst vor der Mobilmachung. Während an der Front zu Kriegsbeginn vor allem Hunderttausende Menschen mit Kampferfahrung im Donbass-Krieg im Einsatz waren, ist es eine natürliche Entwicklung, dass mit der Zeit immer mehr Menschen ohne militärischen Hintergrund eingezogen werden - zumal jede Offensivoperation automatisch Verluste bedeutet. Die Ukraine ist zwar noch Jahre davon entfernt, dass ihr die Soldaten ausgehen. Doch die Angst vor der Rekrutierung ist in der Luft, auch wenn sie selten offen angesprochen wird.
Der andere Faktor ist der Winter. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass die Russen nicht erneut die Energieinfrastruktur der Ukraine beschießen, ist schon infolge des bereits entstandenen Schadens mit Stromausfällen zu rechnen - gerade, wenn der Winter weniger mild als im vergangenen Jahr werden sollte. Sollten bis dahin größere Erfolge wie die Befreiung von Cherson ausbleiben, wäre es vorstellbar, dass die Menschen mit weniger Enthusiasmus durch den Winter gehen. "Diesmal weiß wirklich jeder, dass die Angriffe mit großer Wahrscheinlichkeit kommen. Und da könnte eine gewisse Unzufriedenheit mit der Regierung entstehen, sollte sie sich nicht ausreichend darauf vorbereitet haben, was etwa Generatoren und Wärmestuben angeht", sagt Myssiw. "Aber die Ukrainer werden unter Kriegsumständen sicher keine Revolution veranstalten, das ist auch klar."
Quelle: ntv.de