Russlands verzweifelter Plan Wie Kollaborateure Moskau in der Ukraine helfen sollen
30.08.2022, 10:42 Uhr (aktualisiert)
In Mykolajiw wurde Anfang August eine Ausgangssperre verhängt, um Kollaborateure ausfindig zu machen.
(Foto: REUTERS)
Der Großteil der ukrainischen Bevölkerung steht hinter der eigenen Regierung und leistet Widerstand gegen die russischen Invasoren. Es gibt aber vor allem in den besetzten Gebieten auch prorussische Ukrainer, die den Russen helfen. Sie sollen den Widerstand ihrer Landsleute brechen.
Schon kurz nach Kriegsbeginn fiel der Süden der Ukraine in die Hände der russischen Armee. Seitdem halten die Kreml-Truppen das Gebiet rund um die Schwarzmeerküste von Cherson bis Mariupol und südlich von Saporischschja besetzt. Im Vergleich zu den anderen Landesteilen konnten die Russen in der Region schnell vordringen, ganze Landstriche in Beschlag nehmen - ohne nennenswerten ukrainischen Widerstand.
Die ukrainische Regierung ist davon überzeugt, dass den Russen von ukrainischen Kollaborateuren geholfen wurde. Deshalb hat Präsident Wolodymyr Selenskyj im Juli eine "Selbstreinigung der Behörden" durchgeführt, mehrere hochrangige Sicherheitskräfte wurden entlassen. Darunter der Chef des Inlandsgeheimdienstes, eine Generalstaatsanwältin und auch ein regionaler Geheimdienstleiter, der für den Süden der Ukraine zuständig war.
"Wir haben vielleicht ein wenig aus dem Blick verloren, dass die Russen im Süden der Ukraine innerhalb kürzester Zeit erhebliche Erfolge erzielt haben, große Räume in Besitz genommen haben, ohne dass es zu größeren Kämpfen gekommen ist", blickt Wolfgang Richter, Oberst a.D. des Heeres der Bundeswehr, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" auf den Beginn des russischen Angriffskrieges zurück.
Prorussische Ukrainer im Süden und Osten
Richter vermutet, die Ukraine habe möglicherweise unterschätzt, wie viele prorussische Bürgerinnen und Bürger es nicht nur im Osten, in den Regionen Donezk und Luhansk, sondern auch im Süden des Landes gibt. "Vielleicht hat man übersehen, dass es in der Ukraine immer schon eine Minderheit gab, die sich eher als Russland-affin definiert hat. Das konnte man früher an Wahlergebnissen ablesen. Das sieht man auch an der großen Zahl verbotener Parteien, die Kiew als prorussisch eingeordnet hat".
Nicht nur in den Separatistenregionen Donezk und Luhansk gebe es eine große Zahl prorussischer Ukrainer, sagt Richter. "Auch im Süden sind einige Ukrainer auf die andere Seite gegangen. Das sieht man schon daran, dass viele Verwaltungsbeamte jetzt die Verwaltung unter russischer Flagge organisieren."
Widerstand gegen Besatzer
Es mag für die russischen Angreifer einfach gewesen sein, in den Süden der Ukraine einzumarschieren. Auch wegen der Hilfe von prorussischen Ukrainern. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Besatzer seitdem auf erheblichen Widerstand der ukrainischen Zivilbevölkerung stoßen.
Viele Menschen weigern sich, in den besetzten Gebieten mit russischen Truppen und Verwaltungsbeamten zusammenzuarbeiten. Die Denkfabrik "Institute for the Study of War" berichtet, dass es den Russen zum Beispiel in der fast komplett zerstörten Stadt Mariupol schwerfalle, Kriegsschäden zu beseitigen, Geschäfte wiederzueröffnen, geschweige denn eine Art staatlicher Grundversorgung aufzubauen.
Auch die Eröffnung von russischen Banken - wichtig für den Tausch von ukrainischem zu russischem Geld - gestaltet sich demnach kompliziert. Das Problem ist fehlendes Personal. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sollen sich weigern, für eine russische Bank zu arbeiten.
Handbuch zur Arbeitssabotage
Um den Widerstand der Menschen zu brechen, setzt Russland verstärkt auf die prorussischen Bewohner der Region. Diese sollen den Zusammenhalt der ukrainischen Bevölkerung sabotieren - als Anleitung haben die russischen Truppen ein "Handbuch zur Organisation des Widerstands gegen die Marionettenregierung in Kiew" herausgegeben, hat der ukrainische Militärgeheimdienst vermeldet.
Darin steht auf 14 Seiten, wie die prorussischen Ukrainer ihre Mitmenschen zur Arbeitssabotage drängen sollen. Zum Beispiel wird ihnen empfohlen, besonders bürokratisch zu arbeiten, also komplizierter als nötig, um ihre Arbeitskollegen zu nerven. Auf Fragen sollen sie besonders wirr und unlogisch antworten. Oft und gerne sollen sie während der Arbeitszeit auf die Toilette gehen. Neue Hygieneartikel, Müllsäcke, Toilettenpapier sollen sie erst dann bestellen, wenn alles bereits verbraucht ist, damit Engpässe entstehen. In medizinischen Berufen sollen sie besonders verschwenderisch mit Medikamenten und Verbandsmaterialien umgehen.
Ausgangssperre? "Regt zum Denunzieren an"
Um Kollaborateure auf ukrainischem Gebiet aufzudecken, haben Sicherheitsbehörden am ersten Augustwochenende in Mykolajiw eine Ausgangssperre verhängt, um gezielt nach Personen zu suchen, die mit den Russen zusammenarbeiten. Die 480.000-Einwohner-Stadt liegt nordwestlich von Cherson und ist in ukrainischer Hand.
Für Wolfgang Richter ist die Ausgangssperre zwar eine sinnvolle Maßnahme, um mit Razzien von Haus zu Haus Kollaborateure aufzudecken. Aber der Ex-Oberst sieht auch die Gefahr des Denunziantentums. "Durch diese Maßnahmen streut man natürlich auch Misstrauen in der eigenen Bevölkerung, man regt zum Denunzieren an. Das kann dazu führen, dass es gar nicht um Kollaborateure geht, sondern dass dann auch persönliche Rechnungen beglichen werden."
Wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer genau aufseiten der Russen stehen, ist unklar. Seit dem Kriegsbeginn vor einem halben Jahr sind es aber allem Anschein nach nicht mehr geworden. Und auch der Großteil der Menschen, die nicht aus den besetzten Gebieten geflohen sind, steht weiter auf ukrainischer Seite. Darauf deuten jedenfalls Berichte hin, wonach es den Russen schwerfalle, dort so etwas wie staatliche Ordnung aufzubauen. Und alleine die Existenz eines Handbuchs zur Arbeitssabotage zeigt, wie verzweifelt die russischen Besatzer sind.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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(Dieser Artikel wurde am Freitag, 26. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de