Hoffnung und Ernüchterung Von Vilnius erwartet die Ukraine mehr als einen NATO-Ukraine-Rat


Der ukrainische Präsident Selenskyj am Samstag bei einer Pressekonferenz in Istanbul mit dem türkischen Präsidenten Erdogan.
(Foto: AP)
Die Ukraine will in die NATO: Die Unterstützung in der Bevölkerung für einen Beitritt ist fast einhellig. Man weiß aber auch, dass man sich nicht komplett auf eine Organisation verlassen kann, zu deren Mitgliedern Ungarn zählt.
Einst war die Frage eines möglichen NATO-Beitritts etwas, was die ukrainische Gesellschaft spaltete. Während die potenzielle EU-Mitgliedschaft des Landes schon vor der Maidan-Revolution, der Krim-Annexion und dem Beginn des Donbass-Krieges auch bei vielen vermeintlichen russlandfreundlichen Wählern Anklang fand, gab es selbst nach 2014 ein paar Jahre lang keine klare Mehrheit für die NATO. Die endgültige Wende fand zwar noch vor Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion statt, doch seit Februar 2022 gibt es nun ein so gut wie einstimmiges Bild. Laut der jüngsten Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts liegt die Unterstützung für einen NATO-Beitritt der Ukraine aktuell bei 89 Prozent - ein Rekordwert. Vor einem Jahr waren es 83 Prozent.
Dass der am 11. und 12. Juli anstehende NATO-Gipfel, bei dem es vor allem um die Ukraine gehen wird, gerade im litauischen Vilnius stattfindet, ist für die Ukraine hoch symbolisch. Denn in Vilnius fand vor zehn Jahren auch der historische Gipfel der Östlichen Partnerschaft statt, bei dem der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch auf eine Unterschrift unter dem Assoziierungsabkommen mit der EU verzichtete - und damit die Maidan-Revolution, in der Ukraine als "Revolution der Würde" bekannt, auslöste. Vom NATO-Gipfel am gleichen Ort erwartet man in der Ukraine zwar nichts Historisches, das Thema gehört jedoch seit Wochen und sogar Monaten zu den Prioritäten in den Medien und in der Öffentlichkeit.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der wohl nach Vilnius reisen wird, formuliert seine Wünsche klar und offen: Kiew versteht zwar, dass die NATO-Mitgliedschaft vor dem Kriegsende kaum möglich ist, fordert aber eine klare Perspektive für die Ukraine in der Allianz, eine Bestätigung der Mitgliedschaft für die Nachkriegszeit und Sicherheitsgarantien für die Zeit davor. Auch Selenskyjs Bürochef Andrij Jermak, sein wichtigster Vertrauter, wünscht sich von Vilnius eine Einladung in die NATO mit einem offenen Datum.
Selenskyj wollte ein Signal an Biden senden
Eine direkte Einladung an die Ukraine werde es in Vilnius allerdings nicht geben, das sei schon jetzt offensichtlich, sagt der prominente ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko, der dem Team um Selenskyj nahesteht. "Die Gründe dafür sind klar: Die Unsicherheit über die Aussichten des aktuellen Krieges sowie die eher vorsichtige Haltung des Weißen Hauses in dieser Frage."
Mit seiner jüngsten Reise nach Bulgarien, Tschechien, in die Slowakei sowie in die Türkei habe Selenskyj die Ausgangslage vor Vilnius ohnehin nicht grundsätzlich verändern können, sagt Fessenko. "Das Ziel war aber wohl, dem US-Präsidenten Biden recht massive Unterstützung für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu demonstrieren und damit Einfluss auf die endgültigen Formulierungen der Beschlüsse zu nehmen", so der Chef des Zentrums für angewandte politische Forschung, Penta.
Gerade die überraschend positiven Rückmeldungen aus der Türkei seien in dieser Hinsicht für Kiew wichtig. Dass in Vilnius wohl die erste Sitzung des geplanten NATO-Ukraine-Rates stattfinden wird, nennt Fessenko "eine neuere, qualitativ höhere Ebene der institutionellen Zusammenarbeit zwischen der Allianz und der Ukraine". Noch vor zwei Jahren hätte sich die Ukraine darüber riesig gefreut. "Heutzutage ist das aber für uns zu wenig", sagt der Politologe. "Diese Plattform muss jedoch im ukrainischen Interesse benutzt werden. Und die persönliche Anwesenheit von Selenskyj kann erfahrungsgemäß die Position Bidens und die Entscheidungen des Gipfels beeinflussen."
Und so gibt es in der Ukraine trotz gedämpfter Erwartungen doch zumindest die Hoffnung, dass die Entscheidungen von Vilnius doch konkreter ausfallen werden als die des NATO-Gipfels 2008 in Bukarest, als für Kiew zwar ein Hintertürchen aufgemacht wurde, jedoch ohne Zeitplan und auch sonst ohne konkrete Zusagen. Abgesehen davon, dass ein Beitritt zur NATO und zur EU in der Ukraine heute als völlig alternativlos angesehen wird, hat sich durch den russischen Angriffskrieg noch etwas verändert: Es gibt ein neues Selbstbewusstsein in der ukrainischen Bevölkerung - und eine andere Bewertung der westlichen bürokratischen Strukturen.
Es herrscht eine gewisse Ernüchterung
Das heißt: Wer mit Blick auf die NATO oder auf die EU von möglichen "enttäuschten Hoffnungen" der Ukrainer spricht, übersieht, dass diese Hoffnungen bereits 2014 mit einer eher schwachen Reaktion auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine enttäuscht wurden. Die Jahre der "tiefen Besorgnis" des Westens sind in der Ukraine nicht unbemerkt geblieben; "deeply concernced" wurde als Internet-Meme sogar zu einem Running Gag. Natürlich wird eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als die beste Sicherheitsgarantie betrachtet, die Kiew haben kann. Man weiß aber auch, dass man sich nicht komplett auf eine Organisation verlassen kann, zu deren Mitgliedern Länder wie Ungarn zählen.
Und: Anders als früher wissen die Ukrainer ganz genau, dass ihr Land im Falle einer Mitgliedschaft nicht nur nehmen, sondern auch viel geben kann und wird. "Es gibt diese vereinfachte Perspektive, dass die Mitgliedschaft der Ukraine für die NATO ein Ticket in den Krieg bedeutet", sagt Oleksij Melnyk, Co-Direktor der Programme der Internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. "Doch es wäre ein riesiges Plus, wenn die Ukraine als NATO-Mitglied zur kollektiven Sicherheit beitragen wird. Wenn wir auf einzelne Länder schauen, stehen die USA, Großbritannien, Frankreich und Polen militärisch gut da. Bei anderen Mitgliedern fangen die Schwierigkeiten schon an. Und außerdem erlegt die aktuelle Solidarität gegenüber der Ukraine Kiew Verpflichtungen für die Zukunft auf, die sicher nicht ignoriert werden."
Quelle: ntv.de