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Wann tritt die Ukraine bei? Die NATO diskutiert, nur Scholz sagt nicht so viel

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Rad- und Kettenpanzer der Bundeswehr bei der NATO-Übung "Griffin Storm" in Litauen.

Rad- und Kettenpanzer der Bundeswehr bei der NATO-Übung "Griffin Storm" in Litauen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Schon vor fünfzehn Jahren hat die NATO der Ukraine den Beitritt in Aussicht gestellt, ihr damit jedoch nicht geholfen, wie spätestens seit dem russischen Angriffskrieg klar ist. Das könnte sich beim Gipfel in Vilnius ändern. Wieder sind es die Deutschen, die mauern.

Wenn die Staats- und Regierungschefs der NATO am Dienstag in der litauischen Hauptstadt Vilnius zu einem zweitägigen Gipfel zusammenkommen, dann wird ein Thema im Mittelpunkt stehen, über das die Allianz schon vor Jahren diskutiert hat: der NATO-Beitritt der Ukraine. Obwohl die russische Invasion in die Ukraine die Lage völlig verändert hat, könnte am Ende ein ganz ähnliches Ergebnis stehen wie 2008 in Bukarest.

Damals entschied die NATO, dass die Ukraine beitreten darf, verband das aber mit keinem konkreten Zeitplan, unter anderem auf Druck der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Der Bukarest-Gipfel brachte die Ukraine in die verwundbarste Position seit ihrer Unabhängigkeitserklärung", schreibt der ukrainische Historiker Serhii Plokhy in seinem Buch über den russischen Angriffskrieg. "Die Ukraine war ein einsamer Krieger in offenem Gelände, der von feindlichen Kräften verfolgt wurde und eilig Zuflucht in einer sicheren Festung suchte, nur um feststellen zu müssen, dass deren Tore sich aufgrund von Meinungsverschiedenheiten unter ihren Verteidigern vor ihm schlossen."

Dass Plokhy damit recht hat, ist im Rückblick kaum von der Hand zu weisen. Mit dem NATO-Beitritt auf der langen Bank wollte das Bündnis einen Mittelweg gehen zwischen Zusagen an die Ukraine und Rücksichtnahme auf Russland. Sechs Jahre nach Bukarest griff Russland die Ukraine an. Heute verteidigt Merkel die damalige Entscheidung mit der Begründung, dass Putin einen zügigen NATO-Beitritt der Ukraine nicht hingenommen hätte. "Was in Bukarest beschlossen wurde, hat ein Machtvakuum erzeugt", sagt dagegen der Historiker und Osteuropa-Experte Philipp Ther. "Die NATO hat die Ukraine auf Distanz und gleichzeitig die Tür offen gehalten."

"Wir brauchen diese Motivation"

Die Ukraine dringt darauf, dass die NATO in Vilnius nachholt, was in Bukarest versäumt wurde. "Wir sprechen über ein klares Signal, einige konkrete Dinge in Richtung einer Einladung", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag bei einem Besuch in Prag; Selenskyj wirbt gerade bei einer Tour durch NATO-Staaten um Unterstützung. "Wir brauchen diese Motivation. Wir brauchen Ehrlichkeit in unseren Beziehungen." Vor allem die baltischen NATO-Staaten teilen diese Position. Litauens Präsident Gitanas Nauseda etwa forderte "mutigere Entscheidungen", denn "sonst wird das Putin-Regime zu dem Schluss kommen, dass die westlichen Verbündeten zu schwach sind, in die Enge gedrängt werden sollten und sich ergeben werden".

Dabei geht es nicht um einen Beitritt noch während des Krieges. "Solange Krieg ist, kann die Ukraine nicht NATO-Mitglied werden, denn dann würde die NATO Kriegspartei", sagt der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im Interview mit ntv.de. "Dass es dazu nicht kommen darf, ist innerhalb der NATO und zwischen NATO und Ukraine völlig klar."

Vor fünfzehn Jahren machten sich vor allem die USA für einen raschen Beitritt der Ukraine stark. Das ist heute nicht mehr so: "Die Vereinigten Staaten werden die Politik der offenen Tür beibehalten", sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, im ntv-Interview. Beibehalten - nicht weiter öffnen. "Anders als 2008 gehören die Vereinigten Staaten derzeit zu den Zögerlichen", erläutert der Politologe Thomas Jäger im Gespräch mit ntv.de. "Ihre Hauptsorge ist, alles zu verhindern, was die NATO oder die USA in den Krieg hineinziehen könnte."

Im Gespräch ist derzeit, dass die NATO der Ukraine zusichern könnte, dass sie nach dem Krieg nicht, wie bei Beitritten eigentlich vorgesehen, einen aufwändigen "Membership Action Plan" absolvieren muss, sondern schnell NATO-Mitglied werden kann. Auf diese Variante setzt auch Röttgen: "Was die Ukraine in diesem Krieg militärisch leistet, ist mehr, als jeder Aktionsplan je hätte erbringen können", sagt er. Für die Ukraine müsse es "ein Fast-Track-Verfahren" geben. "Diesen Willen glaubwürdig zu demonstrieren, ist für die Ukraine jetzt auch psychologisch geradezu lebenswichtig."

Beitritt im Krieg ausgeschlossen

Ein Vorschlag, den unter anderem der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, gemacht hat, ist dagegen chancenlos. Der SPD-Politiker hatte in der "Zeit" dafür geworben, dass die Teile der Ukraine, "die unter zuverlässiger Kontrolle der demokratischen Kiewer Regierung stehen", schnellstmöglich zum NATO-Gebiet gehören sollten. Nur für diese Gebiete solle dann auch die Beistandsverpflichtung gelten.

Ein solcher Vorschlag ist hochumstritten, denn ungeklärte Grenzkonflikte sind ein Ausschlusskriterium für einen Beitritt zur NATO - nicht formal, aber faktisch. "Als die NATO sich 1995 Regeln für Erweiterungen gegeben hat, hatte man Jugoslawien im Hinterkopf", erläutert Thomas Jäger. "Deshalb heißt es dort, dass Staaten, in denen es 'ethnische Streitigkeiten oder externe territoriale Streitigkeiten' gebe, diese friedlich beilegen müssen." Das sei kein eindeutiges Ausschlusskriterium. "Aber der Geist dieser Sätze ist, dass kein Staat aufgenommen wird, der einen Verteidigungskrieg gegen einen Nachbarn führt."

Zudem verweist Jäger auf Artikel zehn des Nordatlantikvertrags. Der besagt, dass nur ein Staat zum Beitritt eingeladen wird, "der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen". Mit einer Aufnahme der Ukraine wäre das aktuell nicht der Fall.

Die Bundesregierung mauert

Für die Bundesregierung kommt ein sofortiger NATO-Beitritt der Ukraine nicht infrage. "Es kann während des Krieges gar keinen Beitritt zu unserer Verteidigungsallianz geben", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im ARD-Sommerinterview. Aber was aus dieser Haltung folgt, ist unklar. Bei einer Pressekonferenz mit dem rumänischen Ministerpräsidenten Marcel Ciolacu sagte der Kanzler am Montag: "Seinerzeit wurden in Bukarest Entscheidungen getroffen. Das werden wir weiterentwickeln müssen."

Röttgen kritisiert, die Bundesregierung betone immer nur das Selbstverständliche: eben, dass ein Land im Krieg nicht NATO-Mitglied werden kann. "Das weiß aber jeder. Eigentlich entscheidend ist doch: Was ist die Position der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg? Den Satz, 'wenn der Krieg vorbei ist, soll die Ukraine NATO-Mitglied werden', habe ich vom Bundeskanzler oder seinen Ministern bisher jedenfalls nicht gehört." Der CDU-Außenpolitiker befürchtet, "dass der klare Wille zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht vorhanden ist", zumindest noch nicht.

Sicherheitsgarantien allein wären wertlos

Politologe Jäger geht mit seiner Kritik noch weiter: "Ich weiß gar nicht genau, was die Position der Bundesregierung ist. Aber ich kann mir vorstellen, dass es bei manchen in Berlin noch die Vorstellung gibt, dass die Ukraine ein Pufferstaat zwischen Russland und der NATO sein könnte. Dann könnte die NATO-Mitgliedschaft beziehungsweise der Verzicht darauf ein möglicher Aspekt in späteren Verhandlungen mit Russland sein - aber nur, wenn man sich noch nicht auf einen Weg für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine festgelegt hat." Dies wäre eine Haltung, die im Widerspruch zum offiziell verkündeten Leitspruch "Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine!" stünde.

Sowohl Röttgen als auch Jäger betonen, dass es Sicherheit für die Ukraine nach dem Krieg nur als NATO-Mitglied gibt. "Die Vorstellung, dass es für die Ukraine nach dem Krieg einen anderen Status geben könnte als den eines NATO-Mitglieds, halte ich unter den gegebenen Sicherheitsbedingungen in Europa für geradezu abenteuerlich", sagt Jäger. "Alles unterhalb einer NATO-Mitgliedschaft lässt die Ukraine in einer Grauzone von Sicherheit und Unsicherheit und macht eine nächste Aggression wahrscheinlicher", sagt Röttgen.

Im Budapester Memorandum, einem Abkommen von 1994, hatten Russland, die USA, Großbritannien und später China der Ukraine Sicherheitsgarantien gegeben. Genutzt hat der Ukraine das bekanntlich nichts. Aktuell habe sich die EU bei ihrem jüngsten Gipfel nicht einmal zu Sicherheitsgarantien durchringen können, nur zu Sicherheitszusagen. "Schwammiger geht es kaum", so Jäger. "Das Einzige, was die Sicherheit der Ukraine vor Russland bewahren kann, ist ein enges Bündnis mit den USA." Auf die Frage, was das für den Gipfel von Vilnius bedeute, sagt Jäger, dass dort die Einladung an die Ukraine bekräftigt werden müsse. "Von dem Gipfel muss das politische Signal gegeben werden, dass die NATO sich von der Option Pufferstaat verabschiedet hat."

Quelle: ntv.de

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