Höchste Toten-Zahl nach Israel Warum Thailand so viele Hamas-Opfer beklagt


Mit dem ersten thailändischen Evakuierungsflug aus Israel konnten 41 Menschen aus dem Krisengebiet geholt werden.
(Foto: REUTERS)
Unter den ausländischen Opfern der Hamas-Angriffe in Israel befinden sich besonders viele thailändische Staatsbürger. Sie kamen als Wanderarbeiter in das Land - genau wie Zehntausende weitere Thailänder. Um diese zu retten, schickt die Regierung in Bangkok Evakuierungsflieger. Doch die große Mehrheit will bleiben.
Als die Thailänderin Kanjana Patee am vergangenen Sonntag wie immer bei ihrem Bruder Kiattisak in Israel anruft, geht niemand ran. Sie versucht es noch einmal, wie sie im "Guardian" berichtet, doch nun ist die Leitung tot. Es ist der Morgen nach dem Großangriff der Hamas, Kanjana und ihre Eltern machen sich große Sorgen. Sie wissen nicht, ob ihr Bruder und Sohn getötet wurde oder es möglicherweise geschafft hat, zu fliehen. Dann kursiert plötzlich eine Liste mit Namen derer, die von den Terroristen entführt wurden. Auch Kiattisak Patee steht auf dieser Liste.
Der 35-Jährige ist einer von mehr als 100 Menschen, die von der Hamas verschleppt wurden. Israel meldet zudem mehr als 1000 Tote durch die Angriffe der Terroristen. Auf der Liste von ausländischen Opfern sticht die thailändische Staatsangehörigkeit hervor. So wurden 21 Thailänderinnen und Thailänder von den Islamisten getötet, wie das thailändische Außenministerium mitteilte. 14 weitere Thailänderinnen und Thailänder sollen in den Gazastreifen entführt worden sein. Damit hat das Land nach Israel die höchste Opferzahl zu beklagen.
Während viele der ausländischen Opfer die doppelte Staatsbürgerschaft besaßen, trifft das auf die Thailänder vor Ort nicht zu. Sie waren auch weniger aus familiären oder touristischen als vielmehr aus finanziellen Gründen in Israel. Viele von ihnen stammen aus ärmeren Familien und hofften durch den Job im Ausland auf ein besseres Leben für sich und ihre Angehörigen in der Heimat. Das Gehalt ließ sicherlich darauf hoffen: Als Arbeiterin oder Arbeiter in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Pflege verdienten sie rund 1300 US-Dollar (1237 Euro) im Monat in Israel- das ist ungefähr fünfmal mehr als der Mindestlohn in Thailand.
5000 Thailänder in den "Kampfgebieten"
Auch Kanjanas älterer Bruder Kiattisak Patee zog für ein besseres Leben nach Israel. "Er wollte mehr Geld für seine Familie verdienen und die Schulden der Familie abbauen", sagte Kanjana dem "Guardian". Dafür arbeitete er seit viereinhalb Jahren auf einer Hühnerfarm. Er hatte einen Fünfjahresvertrag. Eigentlich sollte er in sechs Monaten in seine Heimat und zu seiner Familie zurückkehren. Nun weiß seine Familie nicht einmal, ob er als Geisel der Hamas noch lebt, geschweige denn wo er sich befindet.
Wie Patee hielten sich Tausende weitere Thailänderinnen und Thailänder in israelischen Gebieten nahe dem Gazastreifen auf und waren den Hamas-Kämpfern damit unmittelbar ausgeliefert, als diese am vergangenen Samstag nach Israel eindrangen. Rund 5000 thailändische Staatsangehörige leben und arbeiten in den "Kampfgebieten", erklärte Thailands Arbeitsminister Phiphat Ratchakitprakarn jüngst im thailändischen Fernsehen.
Insgesamt sind rund 30.000 Thailänder in Israel beschäftigt, die meisten von ihnen auf Farmen. "Thailand hat in den letzten zehn Jahren den Markt für ausländische Wanderarbeiter in der israelischen Landwirtschaft dominiert", sagte Phil Robertson, stellvertretender Asien-Direktor bei "Human Rights Watch" dem Sender. Mittlerweile drängen allerdings weitere ostasiatische Länder auf den israelischen Arbeitsmarkt. So sind etwa auch rund 30.000 Philippiner in Israel angestellt. Zwei von ihnen wurden bei dem Angriff der Hamas getötet, wie die philippinische Regierung mitteilte. Ob andere unter den Entführungsopfern sind, ist bisher nicht bekannt.
"Palästinensische Arbeitnehmer nicht mehr willkommen"
Asiatinnen und Asiaten machen laut CNN rund die Hälfte aller ausländischen Arbeitskräfte in Israel aus. Ein Grund dafür sei auch die "massive Welle von Terroranschlägen in Israel" in der Vergangenheit, erklärte Assia Ladizhinskaya dem US-Sender. Als Sprecherin von "Kav Laoved", einer ehrenamtlichen Organisation, die sich für die Rechte von Arbeitnehmern in Israel einsetzt, hat sie nach den Anschlägen der vergangenen Jahrzehnte einen Wandel auf dem israelischen Arbeitsmarkt festgestellt. Diese hätten dazu geführt, dass "palästinensische Arbeitnehmer nicht mehr willkommen waren". Ab den 1990er Jahren enstand so ein Loch auf dem Arbeitsmarkt, das von Wanderarbeitern aus Ländern wie Thailand geschlossen wurde, sagte Ladizhinskaya.
Diese Entwicklung birgt allerdings auch Gefahren. Die Abwanderung von Wanderarbeitern in gefährliche Konfliktgebiete auf der Suche nach Arbeit, wo es kaum Schutz und Rechtsdurchsetzung gibt, sei "seit Jahrzehnten ein großes Problem", sagte der britische Forscher und Spezialist für Wanderarbeiterrechte Andy Hall zu CNN. Viele der ausländischen Arbeitskräfte würden sogar hohe Anwerbungsgebühren zahlen, um an einen solchen Job zu kommen.
Dass sich an dem Markt trotzdem nichts ändert und die Regierungen kaum regulierend eingreifen, sei kaum verwunderlich, fügte Hall hinzu. Denn nicht nur aufnehmende Staaten profitieren von günstigen Arbeitnehmern. Auch die Heimatländer wie Thailand oder die Philippinen haben einen Vorteil. So schicken viele Wanderarbeiter einen Teil ihres Verdienstes nach Hause, was wiederum die Wirtschaft im Heimatland ankurbelt.
Die Mehrheit will bleiben
Die finanzielle Not vieler Wanderarbeiter könnte erklären, warum sich laut der thailändischen Regierung von den 30.000 Thailändern in Israel nur 5174 zur Ausreise gemeldet haben. Die deutliche Mehrheit hat sich - zumindest vorerst - entschieden, zu bleiben. Zu ihnen gehört auch der 40-jährige Surachai Seehajumpa, der in der Nähe des Gazastreifens auf einem Bauernhof arbeitet. Er komme weiterhin jeden Tag zur Arbeit, erklärte er in der "Washington Post". Allerdings seien nun Explosionen zu hören.
Weil er seine Schulden begleichen möchte und auf eine Immobilie spart, bleibt er trotzdem. Allerdings, so Seehajumpa, verfolge er regelmäßig die Nachrichten. "Wenn die Hisbollah oder die Taliban beschließen, sich an den Angriffen auf Israel zu beteiligen, werde ich definitiv nach Thailand zurückkehren", sagte er der Zeitung.
Damit möglichst vielen Thailändern die Ausreise aus dem Krisengebiet gelingt, organisiert die thailändische Regierung Evakuierungsflüge. Die erste Maschine landete am Donnerstag in Bangkok und brachte 41 Thailänder in Sicherheit. Im Gespräch mit dem "Guardian" hofft Kanjana Patee, dass auch ihr Bruder bald in einem dieser Flieger sitzen wird. Die vergangenen Tage habe sie damit verbracht, Arbeitskollegen des 35-Jährigen auf Facebook zu kontaktieren, um Informationen über ihren Bruder zu erhalten. Bisher jedoch vergeblich - noch gibt es kein Lebenszeichen von Kiattisak Patee.
Quelle: ntv.de