Ruttes Ruck-RedeWenn die Nato-Partner nicht mehr denselben Gegner sehen

Nato-Generalsekretär Rutte spricht über die Bedrohung durch Russland. Das ist besonders wichtig, weil die USA das nicht mehr tun. Wie dringend ist für Europa der Schritt zur Selbstverteidigung?
In der Politik lässt sich die Bedeutung eines bestimmten Faktors manchmal auch an seiner Abwesenheit festmachen: Wie bedeutsam die Bedrohung durch Russland in den kommenden Jahren für die europäischen Staaten sein wird, das wird nicht nur deutlich, wenn man auf das offizielle russische Budget für Rüstung blickt, das mehr als sieben Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht. Die Bedrohlichkeit für Europa lässt sich auch ermessen, je mehr man in der am Wochenende veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA nach dem Wort Russia, also Russland, sucht. Es kommt dort nicht sehr oft vor, definitiv nicht mehr als "akute Bedrohung", wie Russland in vergangenen Sicherheitsstrategien des Weißen Hauses benannt wurde.
Als wolle Mark Rutte bei seiner eindringlichen Grundsatzrede in Berlin diesen Mangel an Fokus auf Russland ausbalancieren, erwähnt der Nato-Generalsekretär Russia an die 30 Mal. Mit Blick auf seine horrenden Verlustzahlen an der Front, seine Kriegswirtschaft, die Abhängigkeit von Chinas Unterstützung, den Konflikt, der "vor unserer Tür" steht oder die 46.000 Drohnen, mit denen der Kreml in diesem Jahr den ukrainischen Himmel überzog. Knapp 30 Mal Russland, die Quote für die USA und ihren Präsidenten Donald Trump bleibt hingegen unter 5.
Die Europäer sind selbst zuständig
Mark Rutte weiß, was er als Nato-Generalsekretär mit Blick auf das Verhältnis zum Weißen Haus sagen muss: Er halte es für "entscheidend, dass wir die transatlantische Allianz so stark halten, wie sie heute ist", antwortet er auf Nachfrage bei der Diskussion auf Einladung der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Nationale Sicherheitsstrategie enthalte dazu ein vollständiges Bekenntnis zur europäischen Sicherheit, zur Nato und zum Fakt, dass man sich nur verteidigen könne, "wenn man zusammenhält". In den übrigen Rutte-Aussagen des Nachmittags findet dieser Zusammenhalt keine Erwähnung mehr. Und auch diese weitgehende Abwesenheit des Bündnispartners USA in einer Rede des Nato-Chefs hat wohl dieser Tage eine besondere Bedeutung. Man kann damit Unausgesprochenes mitteilen: Die Europäer sollten ihre Sicherheit zukünftig selbst gewährleisten.
Konkret möchte Rutte dazu in Berlin nicht werden. Konkret wurden aber die USA bereits in der Vergangenheit. In Punkt 4 des ursprünglichen "Friedensplans" für ein Ende des Ukrainekriegs hatten die USA angekündigt, sie würden "zwischen Russland und der Nato vermitteln, um alle Sicherheitsfragen zu klären und Bedingungen für eine Deeskalation zu schaffen". In ihrer neuen Sicherheitsstrategie äußern die USA den Willen, das Verhältnis zwischen Europa und Russland zu verbessern und die strategische Stabilität wieder in eine Balance zu bringen.
Das könnte konkretere Bedeutung haben, als es den Europäern lieb sein kann. Das letzte Mal, als der Kreml versuchte, in seinem Sinne in Europa wieder strategische Stabilität zu etablieren, machte er der Nato einige bemerkenswerte Vorschläge. Mitte Dezember 2021 legte Moskau dem westlichen Bündnis Vertragsentwürfe vor. Die Nato hätte darin akzeptieren müssen, keine weiteren Länder ins Bündnis aufzunehmen, besonders im postsowjetischen Raum (Ukraine und Georgien). Zudem sollten die USA die Stationierung von Raketen begrenzen. Die Nato sollte ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen, also bevor osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien, Bulgarien oder die Baltenstaaten dem Bündnis beitraten. In all diesen Ländern wären Truppenstationierungen dann nicht mehr möglich gewesen.
Die USA wolle man hinausgeleiten
Wenige Wochen vor dem Beginn der Vollinvasion Russlands in der Ukraine wedelte Moskaus Machthaber Wladimir Putin quasi mit einem "Angebot", durch dessen Annahme sich der Westen den Verzicht auf einen Ukrainekrieg erkaufen sollte. Der Kreml wollte das Kräfteverhältnis in Europa grundsätzlich neu sortieren und vor allem: die USA freundlich hinausgeleiten, auch mit Blick auf nukleare Fähigkeiten.
Denn zu einer "strategischen Stabilität" gehören auch Nuklearwaffen. Russland hat nukleare Fähigkeiten in der Enklave Kaliningrad - also zwischen Polen und den Baltenstaaten - sowie inzwischen auch Nuklearsprengköpfe in Belarus stationiert. Um unter anderem dieses Potenzial auszugleichen und auch um eine Fähigkeitslücke bei landgestützten Mittelstreckenwaffen zu schließen, sollte Deutschland ab 2026 US-Tomahawk-Marschflugkörper bekommen. Die Raketen sollten im Besitz der USA bleiben, die sich damit klar zur Absicherung der europäischen Partner bekennen würden. Nun sehen sich die USA offenbar zunehmend als Vermittler zwischen Russland und Europa. Stehen die Stationierungspläne auf dem Spiel? Droht tatsächlich eine Situation, in der Russland und die USA über die Köpfe der Europäer hinweg die Sicherheitsarchitektur in Europa neu verhandeln könnten?
Ausgesprochen wird eine solche Bedrohung derzeit wohl kaum, ganz sicher nicht öffentlich vom Nato-Generalsekretär. Eine pessimistische Lesart der US-Sicherheitsstrategie lässt die Befürchtung allerdings zu. Und wer die spärliche Erwähnung der USA als Partner in Ruttes Plädoyer für mehr Engagement zur europäischen Verteidigung interpretieren will, der kann zur Annahme kommen, dass sich nicht auf, aber hinter der Bühne die europäischen Nato-Mitglieder über solche Szenarien Gedanken machen. Anlass hat man seit dem Wochenende genug.